Fremdkörper
kaum. Immer wieder werde ich wach und blicke nervös zum Wecker. Selten habe ich den Sonnenaufgang so sehr herbeigesehnt wie heute. Das letzte Mal. Das letzte Mal. Das letzte Mal. Bevor sich mein Alarm aus dem Wecker meldet, bin ich auf den Beinen. Ich hüpfe durch die Wohnung. Lächle mich müde, aber sehr zufrieden im Spiegel an. In Windeseile stehe ich ausgehfein bereit. Ich beuge mich über meine Kiste mit den ganzen Medikamenten, die ich unbedingt vor der Infusion nehmen muss. Dreimal überprüfe ich meine Liste, ob ich auch tatsächlich alles geschluckt habe, und dann spaziere ich los. Wie immer zu Fuß, heute dem feierlichen Anlass entsprechend etwa 5 Zentimeter über dem Bürgersteig schwebend. Es ist 7 Uhr morgens. Und ich sehr früh in der Ambulanz. Etwas zu früh, also suche ich mir schon einmal einen Sessel aus. Entscheide mich, oh Wunder, wie immer für meinen in der Mitte auf der linken Seite, setze mich hinein und lasse den Blick durch den Raum schweifen. Der Osterschmuck, der mir an meinem ersten Tag hier ins Auge gestochen ist (keine Kunst bei Kanarienvogelgelb und Baustellenhütchenorange), hängt immer noch von der Decke. Obwohl wir jetzt schon bald den Spätsommer einläuten. Die Magazine sind auch noch dieselben.
Ich nehme mir vor, die, die ich heute dabei habe, definitiv hierzulassen. Für ein bisschen Abwechslung zu Gartenwoche und Goldenem Blatt. Ich schalte das scheppernde Radio auf der Fensterbank an. Die besten Hits aller Jahrzehnte donnern mir entgegen. Aaah. Schnell ein neuer Sender. Wer zuerst kommt, wählt zuerst. Ich nehme mir mein Jus primae Radiostation und lande bei einer Welle, die klassische Musik spielt. Das ist ein guter Soundtrack für meine Chemo-Coda. Mein letztes Stück. Als Schwester Carla zu mir kommt, trägt sie ein fast noch größeres Strahlen im Gesicht als ich. »Na, so gut wie geschafft, wa?« – »Ja. Juchhu! Aber ich hatte es mir vorher, ehrlich gesagt, noch viel schlimmer vorgestellt. Es war alles aushaltbar.« – Sie zieht die Augenbrauen hoch und zögert kurz, bevor sie sagt: »Najaaa, Sie sagen das so. Sie sind ja auch unser kleines Phänomen. In schwereren Momenten leichtfüßig rangegangen an die Sache. Und so. Das kann nicht jede.« Während ich mir noch überlege, ob ich mir die Leichtfüßigkeit in irgendeiner Form ans Revers heften kann (und zu dem Schluss komme: nein. Ich war eben so, wie ich bin. Punkt), macht Carla sich mit auffallend leichter Hand an meinen Port und das Setzen der letzten Infusion ran. Wir haben Kekse da. Und Tee. Na, da steht einer fetten Party ja nichts mehr im Wege. So feiert man in der Chemo-Ambulanz.
Fünf Stunden später bin ich, wie immer nach diesem Mittel, ein wenig beschwipst und sprechgestört und wanke winkend aus dem Gebäude. Meine Mitpatientin Bianca wartet draußen schon im Auto und fährt uns in ein kuscheliges Café. Wir lassen es so richtig krachen, bei Apfelsaftschorle und Pfefferminztee, und begießen mein Ende der Chemo und den Anfang des Lebens danach. Vor der Bestrahlung, die ich schon in knapp anderthalb Wochen beginnen will, ist mir überhaupt nicht bang. Das wird ein Klacks gegen den Rest.
Lange halte ich es unterwegs allerdings nicht aus. Ich spüre eine große Sehnsucht nach zu Hause. Nach dem Paar Armen, das mich in den vergangenen Monaten so oft gehalten und gestreichelt hat, wenn ich mir sicher war, jeden Halt und jede Hoffnung zu verlieren. Thom gibt einen röhrenden Schrei von sich, als ich ihn zu Hause übermütig und überglücklich anspringe. Holla! Da detoniert gerade die Anspannung und Angst aus fast fünf Monaten. Gut, dass es raus ist. Und: dass es um ist.
Ich mache ein paar Notizen in mein Tagebuch für diese Zeit. Chemo-Memo habe ich es genannt. Chemo-Memo. Um den Monster, der Fratze Chemo etwas Comichaftes und es der Lächerlichkeit preiszugeben. Blättere hin und her, lese Zeilen und manchmal Absätze. Muss an manchen Stellen lachen und an anderen schlucken. Will nicht traurig werden. Darum besinne ich mich auf etwas, was mich immer fröhlich gestimmt hat. Mein Laufen. Durch meine Aufzeichnungen kann ich nachlesen, wann ich wie und welche Strecke zurückgelegt habe. Ich stelle dabei fest, dass ich nur an insgesamt fünf Tagen während der ganzen Chemotherapie keinen Sport gemacht habe. Bin gerade, man verzeihe mir bitte noch einmal die schamlose Selbstbeweihräucherung, etwas von mir beeindruckt. Ich müsste nach diesem regelmäßigen Rennprogramm eigentlich ganz fit sein.
Eine Idee
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