Fremdkörper
Ich trinke wieder viel Wasser. Und schlummer den Kummer weg. Wenn nicht hier, wo dann kann man bestens gesund werden: Schatten, Meeresrauschen, nackte, eingeölte Spanier, die uns Luft zufächeln ...« Jule muss glücklicherweise lachen: »Apropos nackt und eingeölt ...« Wir erzählen uns von Freundinnen und deren Männergeschichten. Warum die Guten fast immer vergeben sind. Und das auch noch nicht selten an böse Frauen. Und: Warum die lieben Frauen so oft an Dreckskerle geraten. Die die lieben Frauen schlecht behandeln. Und die eigene Ehefrau übrigens auch. Herrliche, unerschöpfliche Themenwelt.
Diese und die Welt des Sandkorns verlassen wir erst gegen Abend. Als meine müden Lebensgeister wieder erwacht und Farbe in die Wangen zurückgekehrt ist. Ich recke mich wie nach einem Winterschlaf und spüre die neue Energie in jedem Körperwinkel. Es geht vorbei. Alles Schlimme geht vorbei. Und jetzt ist es vorbei. Hoffentlich für immer.
Für immer auf der Insel bleiben. Joggen, Bücher, Strand. Das wär es doch. Ich hätte nichts dagegen. Für immer dauert dieses Mal eine kleine Woche. Danach fliegt Jule heim. Und Thom kommt her. Mit galantem Fummel im Gepäck und vielen, weißen Anziehsachen. Paul und Nina wollen für immer zwar nicht auf der Insel, aber zusammenbleiben und haben sich eine White Wedding gewünscht. Wobei dabei nicht nur die Braut in weiß erscheint, sondern ihr Zukünftiger inklusive der gesammelten Gästeschar auch. Ich trage ein weißes Häkel-Hippie-Kleid und einen Sonnenhut aus Baumwolle, der eine so breite und tiefe Krempe hat, dass man auf den ersten Blick gar nicht sieht, dass ich darunter nackt bin. Schön, so ein Modemotto.
Die Zeremonie wird von einer Frau durchgeführt, die die Verbindung nach keltischem Brauch segnet. Auf einem Felsplateau 100 Meter über dem Meer. Und in die tief stehende Sonne hinein hauchen beide ihr Liebesversprechen. Es tropft aus vielen Gesichtern. Erst recht aus meinem. Wieder so eine Highscore-Hochzeit in Sachen Romantik. Zum vierten Mal in diesem Jahr haben Thom und ich dabei zuhören dürfen, wie andere, verliebte Menschen den gleichen Pakt schließen, der uns bisher wirklich gut durch die vergangenen Monate geholfen hat: In guten wie in schlechten Tagen. Wobei die schlechten – dessen bin ich mir in diesem Augenblick sicherer denn je – jetzt definitiv um sind.
40.
Strahlen, bitte! (Woche 20)
Das Muster der etablierten Therapieform im Kampf gegen meine Krankheit klingt wenig sanft. Ein Blick in die Asservatenkammer des Feldzuges gegen den Krebs: Stahl, Strahl und Chemo. So bekämpfen die Schulmediziner seit Jahren alle möglichen Karzinome. Zwei Drittel des Plans habe ich erfüllt. Wenn auch in anderer Reihenfolge. Zunächst der Stahl, die OP. Dann die Chemo. Passé, juchhe! Und zum Schluss noch ein paar Strahlen. Keine zwei Wochen nach meinem letzten Zyklus ist es so weit. Ich wollte, dass es ohne große Pause weitergeht. Darum hatte ich mich schon frühzeitig während der Chemotherapie gekümmert. Heute morgen lag ich zum ersten Mal, angemalt an den Bestrahlungsfeldern und fixiert, auf einer Liege und ließ die erste Dosis über mich ergehen. Außer einem Summgeräusch aus der riesigen, mich umfahrenden Apparatur habe ich nichts gemerkt, gespürt oder gesehen. Noch nicht mal nach erhitzter Haut riecht es. Dabei hatte ich fest damit gerechnet. Dieser markante, etwas beißende Geruch, den die vorzeitig alternde Haut annimmt, wenn man 5 Minuten zu lange auf der Sonnenbank liegen geblieben ist. Fehlanzeige. Die ganze Bestrahlungsarie dauert noch nicht einmal 5 Minuten. Mir ist danach etwas schwummerig. Alles normal, erfahre ich. Schön. Ich bin beruhigt.
Fröhlich wegen des kostenlosen und watteweichen Zustands wunschloser Glückseligkeit, mache ich mich auf den schlingernden Heimweg. Viel schneller als vermutet findet mein Körper den Weg zurück zum Normalzustand. Das ist insofern ganz besonders erfreulich, weil ich heute Nachmittag noch eine weitere Station mit diesem Reiseziel (Normalzustand) erreiche. Ich lasse mir den Port wieder entfernen. Dr. Christiansen hatte zwar empfohlen, noch sechs Monate zu warten. Damit waren ich und meine Ungeduld aber nicht einverstanden. In Erwartung eines Rückfalls lasse ich das Ding sicher nicht in mir. Und je schneller ich mich von allen sichtbaren Erinnerungen an das Schreckliche trennen kann, umso besser finde ich das. Und meine Ungeduld.
Die kleine Operateurin mit den großen, dunklen, warmen Augen nimmt
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