Fremdkörper
verbringen die Tage in immer gleicher Sorglosigkeit. Ein bisschen lesen, ein bisschen essen, ein bisschen reden, ein bisschen schlafen, ein bisschen bräunen, ein bisschen Witze erzählen, viele Liter Wasser trinken. Gegen 18 Uhr packen wir unsere Sachen zusammen. Aufgeladen mit der Hitze des Tages, leicht geröteten Wangen, einem ansonsten knusprigen Äußeren machen wir uns auf den Nachhauseweg. Jule in das ihre. Ich in das meine. Zum Abendessen treffen wir uns später wieder. So haben wir es jedenfalls eben abgemacht. Auf der Fahrt wird mir plötzlich übel. Uäääh!
Das hatte ich ja die ganzen Monate nicht in dieser Intensität. Wasser steigt in die Augen und Spucke sammelt sich im Mund. An den unteren Kieferknochen zieht es unangenehm. Ich habe das Tempo gedrosselt, mag aber nicht anhalten. Nur schnell nach Hause. Das fühlt sich an wie kurz vor Kollaps. In meiner Ferienwohnung falle ich aufs Bett. Da sind sie wieder. Die vielen bunten Sternchen. Was habe ich euch vermisst! Halb deliriös schreibe ich Jule eine kurze Nachricht: »Kann nicht. Hab Schwäche. Bis morgen.« Ich drehe mich, ziemlich beleidigt und zornig ob dieses Zusammenbruchs, auf die Seite und forsche nach der Ursache des Übels. Und der Übelkeit. Natürlich. Bling. Die Erkenntnis lässt nicht lange auf sich warten. Trotz Nebelhirn. Wie ein Nebelhorn tutet es in mir: Heute ist Tag 10. Der zu zweifelhaftem Ruhm gekommene Tag 10 nach einer Infusion, an dem die Leukozyten beinahe traditionell, weil erfahrungsgemäß und bei fast allen Patienten, am allerniedrigsten sind – und dann gerne mal den kompletten Motor Mensch runterfahren. Ich bin gerade in so einer stillgelegten Phase. Zwar habe ich auch hier im Urlaub meine Medikamente dabei und sie auch benutzt. Aber der Körper kapituliert. War wahrscheinlich ein bisschen viel. Jule ruft an: »Was ist los, Liebes? Soll ich kommen, dich pflegen, irgendetwas tun?« – »Nein, nein. Ich kenne das schon. Nicht so heftig. Aber die Symptome sind immer dieselben. Ich muss versuchen zu schlafen. Morgen ist alles wieder gut.« Das ist ein bisschen Selbstbetrug. Ich versuche gerade, mich selbst zu überlisten. Morgen wird nämlich noch nicht alles wieder gut sein. Denn eigentlich ist so sicher wie das Zusammenklappen am bösen Tag 10, dass der hilflos desperate Zustand ziemlich genau 36 Stunden anhält: eine Nacht, ein Tag, eine Nacht.
Ich fühle mich elend. Allein, kraftlos, hungrig. Ich muss es nicht sein. Ich weiß. Hab aber keine Energie für Gesellschaft. Kurz bevor ich es mir in diesem Sessel Selbstmitleid bequem machen kann, rufe ich mir ins Gedächtnis zurück, was mich schon so manches Mal über die unangenehmen Momente gerettet hat: Es geht vorbei. Unglaublich, aber wahr. Es – geht – vorbei. Das sind nur Nebenwirkungen. Die sind nicht schön. Aber sie gehen wieder weg. Hundertprozentig. Welch heilende Wirkung die Hoffnung hat. Deutlich entspannter schlafe ich gegen vermutlich 8 Uhr abends ein.
Als ich mit den ersten Sonnenstrahlen wach werde, rumpeln Kopf und Bauch. Der Magen vor Hunger. Der Schädel vor Schmerz. Was für eine ätzende Nacht. Ich habe das Bett zerwühlt vor lauter Unruhe. Das Laken steckt an keiner Ecke mehr unter der Matratze. Richtig erholsam schlafen geht irgendwie nicht in diesen jammervollen 36 Stunden. Ich musste auch dieses Mal viel wimmern und immer neue Schlafpositionen suchen. Gut, dass niemand neben mir diesen Feldzug gegen mich selbst mitbekommen musste. Ich setze mich auf, fühle mich stabil und steuere direkt meine Medikamentenkiste an: schnell eine Spritze Neupogen. Jungleukozyten. Eine Armada weißer Blutkörperchen in der Ausbildung sozusagen, die meine angeschlagene Gesundheitspolizei im Körper unterstützen. Gestern schon und morgen noch. Dann sollte auch dieses letzte Kapitel der beeinträchtigenden Nebenwirkungen geschlossen werden können. Nach einem Eisenkrauttee – bildet Blut, also gut – und Obst zum Frühstück fühle ich mich fit genug für die Autofahrt zum Strand. Denn alleine in der Bude mag ich heute nicht rumlungern.
Jule erwartet mich schon mit einem Kräuselstirn-Gesicht. Sehe ich so zerschmettert aus? Ich beruhige sie: »Mach dir keine Sorgen. Sieht fies aus. Weil ich so schlapp daherkomme. Ist aber morgen um diese Zeit um.« – »Sollen wir nicht doch lieber zu einem Arzt oder ins Krankenhaus?« Tja. Ich sehe offenkundig sehr zerschmettert aus. Bemühe mich um ein lustiges Gesicht: »Müssen wir nicht. Ich habe meine Arznei bei mir.
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