French 75: Ein Rostock-Krimi
der Junge befand, der ihn mit diesem merkwürdigen Blick gemustert hatte. Jetzt kam er darauf, was es mit ihm auf sich hatte: In seinen Augen hatten Demut und gleichzeitig Neugierde gestanden, eine Mischung, die er früher immer in den Augen seiner Ehefrau gefunden hatte. Eine Mischung, die er jetzt so heftig vermisste. Suchte er diese Mischung etwa unbewusst? Fielen ihm diese Blicke nur auf, weil er sie suchte? Aber warum sahen ihn Frauen nicht mehr so an, sondern ausschließlich Schwule? Der Junge sah just in diesem Moment hoch, und Pawel trat schnell einen Schritt zurück, um sofort im Wohnzimmer zu verschwinden.
Er stellte das leere Glas auf den Couchtisch und ließ sich aufs Sofa fallen, auf dem er schon einmal gesessen hatte. Ihm gegenüber hatte Tina Schneider gesessen und ihn besorgt angesehen. Hilfe suchend. Pawel schloss die Augen. Was war das Motiv? Warum?
Er schüttelte den Kopf, dann fiel ihm ein, dass er die vierte Tür noch nicht geöffnet hatte. Er hatte sich gescheut, die Klinke niederzudrücken. Doch Scheu war nur die kleinere Schwester der Abscheu, meinte Pawel, und Abscheu dürfe er gar nicht erst aufkommen lassen. Er seufzte, warf den Oberkörper nach vorne und stand schwungvoll auf.
Noch einmal sah er sich im Wohnzimmer um, während er sich sagte: »Sieh hin, übersieh nichts, guck dir alles an, hast du die Schrankwand gemustert, ja, auch oben drauf, ja, der Tisch, was liegt auf ihm, nichts, auf den Stühlen, nichts, bist du dir sicher, alles gesehen zu haben, ja, also gut, dann ab ins Kinderzimmer.«
Pawel blieb vor der Tür stehen, drückte die Klinke langsam herunter und trat ein. Er war überrascht, dass hier die Gardine noch immer zugezogen war. Unter dem Fenster stand das kleine Bett. Pawel beugte sich leicht noch vorne, zog die Vorhänge zurück und schrak zusammen.
»Was, verdammt?«
»Papa?«
Pawel starrte auf den Jungen. Seine Haare waren so flachsblond, dass sie in der Dunkelheit leuchteten. Pawel zog die Gardine ganz auf. Der Junge sah ihn mit großen Augen an, keineswegs ängstlich.
»Ich kenne dich, du warst schon mal bei meiner Mutter!«
Pawel nickte. »Wo ist deine Mutter?«
»Verreist. Sie kommt aber bald wieder.«
»Und wer passt solange auf dich auf?«
Der Siebenjährige wühlte sich aus dem Bett, stellte sich in die Mitte des kleinen Zimmers und sagte mit einem mächtigen Stolz: »Mein Vater! Mein Vater ist zurückgekommen. Er ist jetzt immer für mich da. Das hat er selbst gesagt.«
Pawel nickte erneut und hockte sich aufs Kinderbett. Die Decke war noch warm, verstört sah er den Jungen an.
»Und wer bist du?«
»Ich bin Privatdetektiv.«
»Und was willst du hier?«
»Etwas überprüfen.«
»Was denn?«
»Etwas, was du noch nicht verstehst. Ich muss mit deinem Vater reden.«
»Der ist nur kurz einkaufen, der kommt gleich wieder.«
»Der kommt gleich wieder?«
»Ja, was denkst du denn? Denkst du, mein Vater lässt mich hier alleine zurück? Das macht er nicht, das hat er selbst gesagt. Das macht er nie wieder. Nie wieder!«
Sollte er abhauen? Noch war Zeit! Er war ohne zu klingeln in die Wohnung gegangen, überzeugt, dass sie leer war, aber warum sollte sie? In diesem Moment wurde die Wohnungstür aufgeschlossen, der Junge rannte in den Flur und schrie: »Papa, Papa, da ist ein Mann in meinem Bett!«
Pawel wurde knallrot, dann wurde ihm schlecht. Er versuchte erst gar nicht, aufzustehen, und wenig später sah er einen breitschultrigen Mann im Türrahmen stehen, Kurzhaarfrisur, Stiernacken. Alles klar. Es war der Typ Mann, der körperliche Arbeit gewohnt war. Pawel sah es auf den ersten Blick.
»Was, zum Teufel, machen Sie hier?«, brüllte der Vater.
»Das ist nicht so, wie es aussieht!«
»So? – Wie sieht es denn aus? – He, wie denn? – Wie?«
Pawel bereute es, nicht aufgestanden zu sein. Der Vater war mit zwei Schritten dicht vor ihm. Der Schlag traf ihn links am Kinn. Wortlos sackte der Privatdetektiv zusammen.
»Geh in die Küche, Björn«, wies der Vater seinen Sohn an.
Der Junge stand im Flur und hielt sich am Türrahmen fest. Neugierig schielte er ins Zimmer.
»Geh in die Küche!«
Das Kindergesicht verschwand, und der Vater warf den Bewusstlosen auf den Bauch. Er drehte ihm beide Hände nach hinten und sah sich im Zimmer um. Mit einer Kinderhose, die er zusammenzwirbelte, fesselte er den Eindringling. Er war kein Mann vieler Worte. Er lebte seit drei Jahren allein, und auch auf dem Marinewachboot sprach er nur, wenn er von
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