French 75: Ein Rostock-Krimi
er sie geknackt! Mithilfe des Sohnes. Pawel erschauerte. Tina Schneider gab dem anonymen Anrufer ihre Anschrift. Sie buchstabierte sogar mehrmals.
Doch was bewies das schon? Pawel nahm den Mitschnitt aus dem Abspielgerät und drehte ihn wieder zwischen den Fingern. Was?
Es bewies eine ganze Menge, verstand er plötzlich: Wenn es keine Prospekte und keine Fragelisten von diesem Verein gab, dann war das eine Spur! Eine verdammt heiße sogar!
Er musste noch einmal in die Wohnung, heimlich. Er musste Tinas Post durchsuchen.
Pawel klopfte sich in Gedanken auf die Schulter, legte den Mitschnitt in den Tresor und ließ die kaputte Zimmertür hinter sich. Sollte sich der Hausmeister darum kümmern! Pawel Höchst hatte eine Fährte.
Kurz verachtete er sich dafür, dass er erst an die eine Million gedacht hatte und dann an die Leiche von Tina Schneider und zum Schluss erst an ihren kleinen Sohn. Dann verdrängte er diesen Gedanken ganz schnell wieder. Gab es diesen Prospekt nicht, dann hatte der Anrufer wirklich nur die Adresse von Tina Schneider und ihrem kleinen Sohn gewollt. Dann war ihr eine Lüge aufgetischt worden. Aber eine Lüge war doch noch kein Mord. Pawel hörte mit dem Denken auf und raste mit seinem alten Peugeot durch den Nachmittagsverkehr von Rostock.
Der Feind war eine Formel, stand in seinem Handbuch, die immer zu entschlüsseln war.
XI.
Zum dritten Mal stand Pawel Höchst vor dem Eingang der Nummer sechsundneunzig. Auf dem Klingelknopf fand sich noch immer der Name von Tina Schneider, und Pawel überlegte, während er einen Schritt zurückging, ob ein Fremder von außen in die Wohnung im dritten Stock gelangen könnte. An der Fassade? Unmöglich.
Vor vier Tagen hatte es hier von Polizeisirenen nur so gewimmelt, aber nun lag das Neubauviertel wieder still da. Die Arbeitslosen sahen aus den Fenstern, die Aufstocker waren mit den Fahrrädern auf dem Weg zu ihren Arbeitsstellen, und die Rentner schoben Geräte über den Asphalt, die zugleich Einkaufswagen und Krückstock waren. Gehhilfen nannte man diese Dinger, Pawel sah einer alten Frau hinterher und dachte: Was für ein Sadismus, diese Alten am Leben zu erhalten, nur damit die Pharmaindustrie durch die Krankenkassen an ihnen verdient. Wo ist denn in Deutschland das Sterben in Würde noch möglich? In Russland kam die ganze Familie zusammen und wartete am Sterbebett auf die letzten Worte, weil es dort kaum lebensverlängernde Maßnahmen gab, aber hier? Die Jungen sollten die Alten pflegen, die es verpasst hatten, in Würde zu sterben, aber war das für die Jungen nicht eine Zumutung?
Pawel hielt die Tür fest, als ein Teenager aus dem Haus kam, und ging in den Flur. Der Jugendliche warf noch einen Blick zurück, Pawel spürte es. War der Junge etwa schwul? Er drehte sich nicht um, obwohl ein Impuls da war. Stattdessen ging er die Stufen zur dritten Etage hoch. Oben meinte er, es gäbe Schlimmeres.
Das Polizeisiegel war durchtrennt und nicht mit einem neuen überklebt worden. Die Polizei hatte die Wohnung also freigegeben. Pawel drückte gegen die Tür, die jedoch nicht nachgab. Dann grinste er sarkastisch, fiel ihm doch ein, dass er gerade einen Fehler gemacht hatte. Wenn er auf der Suche nach Prospekten war, hätte er dann nicht zuerst in den Briefkasten schauen müssen? Leute schickte das Arbeitsamt! Dann gab er dem Jugendlichen, der ihm nachgesehen hatte, die Schuld. Er hatte ihn abgelenkt. Absolut.
Pawel zog seinen elektrischen Dietrich aus der Innentasche, setzte ihn an, hustete und schloss kurz darauf die Tür von innen. Er schaltete das Flurlicht ein. Fast alle Zimmertüren waren offen. Schnell sah Pawel ins Bad, ins Schlafzimmer, dann stand er im Wohnzimmer, durch das er nach einem kurzen Rundblick ging, um sich in der Küche umzusehen.
Nirgends Prospekte oder Fragelisten von einer Hilfsorganisation, die Kinder vor Gewalt schützen wollte. In den Schränken fanden sich keine Spendenquittungen. Pawel schlug den Ordner einer Versicherung auf, in der sich amtliche Dokumente befanden. Steuerbescheide, Krankenkassenabrechnungen, Mietverträge, Kaufverträge, Altersvorsorgebelege, Pawel stellte ihn wieder zurück. Er holte sich in der Küche ein Glas Wasser, ging auf den Balkon und sah auf einen riesigen Innenhof, der von zwölf Neubaublocks begrenzt wurde. In der Mitte breitete sich ein verwahrloster Spielplatz aus. Die Geräte waren kaputt, die Stangen verrostet. Auf demolierten Bänken saßen ein paar Jugendliche, unter denen sich auch
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