French 75: Ein Rostock-Krimi
kleinlichen Abhängigkeiten.
Er hatte gerade gelesen, auch Unterweger hatte Nietzsche geliebt. Und auch Nathan Leopold und Richard Loeb, die einen vierzehnjährigen Jungen ermordet hatten, nur um zu beweisen, dass es den perfekten Mord gab. Sie hatten versagt. Ihr Opfer war umsonst gestorben, aber auch sie hatten sich auf Nietzsche berufen. Man durfte diesem Philosophen nicht glauben, dass es Übermenschen gab, dass es ein Über-Ich gab, denn wenn man dies tat, unterschätzte man die anderen. Und das Unter-Ich sowieso, was auch immer das sein sollte.
Dieser Nietzsche war der Philosoph des Sterbens, der Hausgelehrte des Todes. Hatte er nicht sogar behauptet, ein Unsichtbarer, ein Geist, ein Toter wäre tot? Gott ist tot. Ein Untoter wäre tot?
Tobias lächelte. Wie konnte jemand tot sein, der gar nicht lebendig gewesen war? Nur der Tod war unsterblich. Gott, das war nun mal lediglich eine Metapher für den Gevatter Tod. Einer seiner vielen Spitznamen.
Tobias fand einen Briefkasten an der Drehtür der Flughafenhalle. Wie immer streichelte er noch einmal über den Umschlag, ehe er den Schlitz öffnete und das Kuvert in den Kasten fallen ließ.
Eine letzte Stunde in der Schweiz noch, Tobias ahnte, dass er lange nicht mehr in die Alpenrepublik zurückkommen würde. Bobby Franks, so hieß das Opfer der Chicagoer Mörder Loeb und Leopold, vielleicht sollte er es einmal mit Amerika versuchen?
Tobias stellte sich Chicago als einen guten Ort vor, um Inspiration für neue Lyrik zu finden. Mord, Totschlag, Vergewaltigung, das waren ja die Themen seiner Poesie, die in ganz Europa so gefeiert wurde. Und galt Chicago nicht sogar als Heimat des Verbrechens? Loeb war achtzehn und Leopold neunzehn Jahre alt gewesen, als sie den perfekten Mord an den Jungen geplant und ausgeführt hatten. Ihr Trick bestand später darin, sich gegenseitig zu bezichtigen, den Mord begangen zu haben. Die Geschworenen wussten nicht, wen sie verurteilen sollten, und hätten daher beide wieder freilassen müssen, wenn sich nicht im letzten Moment Loeb doch noch zum Mord bekannt hätte.
Dank seiner achtzehn Jahre entkam er der Todesstrafe, wurde aber im Gefängnis von einem Mithäftling umgebracht. So hatte der Masochist überlebt, der Sadist hingegen war getötet worden, denn Loeb war eine dominante, treibende Persönlichkeit gewesen, Leopold hingegen hatte Gefallen daran gefunden, seinem jüngeren Freund als Sklave zu dienen.
Tobias grinste: Da war dann also der Übermensch gestorben, der kleine Mitläufer hingegen hatte überlebt. Hätte Nietzsche das gewusst, er hätte seine ganze schöne Theorie vom Übermenschenkult ins Klo spülen können.
Tobias rückte seine Tragetasche auf der Schulter zurecht, während er zur Schleuse ging, um einzuchecken. Die Kontrollen passierte er ohne Probleme, sein hübsches Gesicht machte Eindruck auf die Kontrolleure. Sein Charme und seine neunzehn Jahre, dazu der gediegene Anzug und die langen, blonden Haare, Tobias war es gewohnt, mit Unterwürfigkeit behandelt zu werden. Er dachte nicht mehr an Loeb und Leopold, während er zum Flieger ging, stellte sich aber vor, wie es wäre, hätte er einen solch persönlichen Sklaven. Keinen Hund wie Hitler, sondern einen echten menschlichen Sklaven.
Als ihm die Stewardess nachschenkte, der Flieger losrollte und sie ihm einen Blick auf ihre schönen Brüste gestattete, wusste er, dass es ein kurzweiliger Flug werden würde. Er zwinkerte ihr zu und hauchte ihr ein paar Zeilen des besten Poeten der Liebe ins Ohr; Paul Verlaine, nicht er selbst.
Ob das Mädchen ein wenig devot und masochistisch veranlagt war? Tobias spürte jetzt ein großes Verlangen danach.
DRITTER TEIL
XIII
Die Vögel waren schon wieder aktiv, als er sich aufs Fahrrad schwang und Rostock-Dierkow auf der Hauptstraße verließ. Wie jeden Arbeitstag hielt Tim Leidger beim Bäcker und holte sich zwei Brötchen, die mit Käse und Schinken überbacken waren. Er fuhr an der Endhaltestelle der Straßenbahn vorbei und bog auf der Bundesstraße nach links ab. Immer mehr Vögel gingen ihrem Tagwerk nach.
Tim radelte über den Damm, wenig später über die Brücke und ordnete sich an der großen Kreuzung in den Verkehr der Umgehungsstraße ein. Wie immer fuhr er stadteinwärts, überquerte die beiden Fahrspuren, hörte es hinter sich hupen und bremsen, um auf die Linksabbiegerspur zu kommen. Seine Arbeitsstätte befand sich direkt neben dem Klostergebäude der Hochschule für Musik und Theater. Er konnte
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