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French, Tana

French, Tana

Titel: French, Tana Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sterbenskalt
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habt euch dauernd gezofft. Aber schließlich seid ihr trotzdem Brüder ...«
    Das war
nicht nur offensichtlicher Blödsinn - meine erste Erinnerung an Shay ist die,
dass ich wach werde und er versucht, mir mit einem Bleistift das Trommelfell
zu durchstoßen -, sondern noch dazu offensichtlicher Blödsinn, den Kevin
erfand, um mich von dem abzulenken, was er eigentlich hatte sagen wollen. Ich
hätte fast nachgehakt. Noch immer frage ich mich, was passiert wäre, wenn ich
es getan hätte. Aber ehe ich dazu kam, wurde die Haustür mit einem Klick
geschlossen, ein schwaches, behutsames Geräusch: Shay kam ins Haus.
    Kevin und
ich lagen still da und lauschten. Leise Schritte, die kurz auf dem Flur
verharrten und sich dann die Treppe hinaufbewegten. Das Klicken einer anderen
Tür, knarrende Dielenbretter über uns.
    Ich sagte: »Kev.«
    Kevin
stellte sich schlafend. Nach einer Weile klappte sein Mund auf, und er gab
kleine, schnaufende Laute von sich.
    Es dauerte
lange, bis Shay aufhörte, sich leise durch seine Wohnung zu bewegen. Als das
Haus still wurde, wartete ich fünfzehn Minuten ab, setzte mich dann vorsichtig
auf - in der Ecke leuchtete Jesus vor sich hin und starrte mich an, als wollte
er sagen, deine Sorte kenn ich - und sah
zum Fenster hinaus. Es hatte angefangen zu regnen. Fast alle Lichter am
Faithful Place waren erloschen, nur eines, oberhalb von mir, warf noch nasse
gelbe Streifen auf das Kopfsteinpflaster.
     
    3
     
    ich schlafe nach dem Kamelprinzip: Wenn ich die
Gelegenheit habe, lege ich mir einen Vorrat an, komme aber lange ohne Schlaf
aus, wenn irgendetwas Dringendes ansteht. In jener Nacht lag ich wach, starrte
auf die dunkle Form des Koffers unter dem Fenster, lauschte auf Dads
Schnarchen und sortierte meine Gedanken, machte mich für den nächsten Tag
bereit.
    Die
Möglichkeiten waren ein wirres Knäuel, wie Spaghetti, aber zwei ragten heraus.
Die eine war die Version, die ich meiner Familie aufgetischt hatte, eine
leicht abgewandelte Variante der alten Leier. Rosie hatte beschlossen, allein
abzuhauen, und den Koffer frühzeitig versteckt, um ihre Chance zu erhöhen,
weder von ihren Eltern noch von mir erwischt zu werden, wenn sie sich vom Acker
machte. Als sie den Koffer holen und den Brief deponieren wollte, musste sie
durch die Gärten, weil ich auf der Straße stand und wartete. Den Koffer über
die Mauer zu hieven hätte zu viel Lärm gemacht, daher ließ sie ihn einfach im
Versteck zurück und machte sich auf den Weg - das Rascheln und Gepolter, das
ich aus den Gärten gehört hatte, war sie gewesen - in ihr wunderbares neues
Leben.
    Es kam so
einigermaßen hin. Es erklärte alles, bis auf eines: die Fahrkarten für die
Fähre. Selbst wenn Rosie vorgehabt hätte, die Fähre am frühen Morgen ohne sie
ablegen zu lassen und erst noch ein oder zwei Tage unterzutauchen, für den
Fall, dass ich am Hafen aufkreuzte und einen auf Stanley Kowalski machte, hätte
sie irgendwas mit der zweiten Fahrkarte angestellt: sie getauscht, sie
verkauft. Die Fahrkarten hatten uns pro Stück mehr als die Hälfte eines
Wochenlohns gekostet. Nie im Leben hätte sie die einfach in einem Kamin
verrotten lassen, es sei denn, sie hatte keine andere Wahl gehabt.
    Die andere
der beiden Möglichkeiten war die, für die Shay und Jackie votierten, jeweils
mit ihrem entsprechenden Maß an individuellem Charme. Irgendwer hatte Rosie
abgefangen, entweder auf dem Weg zu Theorie eins oder auf dem Weg zu mir.
    Ich hatte
mit Theorie eins ein Waffenstillstandsabkommen geschlossen, und sie hatte sich
über zwei Jahrzehnte lang hübsch in einer kleinen Ecke meines Kopfes
eingenistet, wie eine Kugel, die zu tief sitzt, um herausoperiert zu werden;
die meiste Zeit spürte ich die scharfen Kanten nicht, solange ich sie nicht
berührte. Theorie zwei pustete mir förmlich das Hirn raus.
    Es war
Samstagabend, nur noch gut einen Tag bis zur Stunde null, als ich Rosie Daly
das letzte Mal sah. Ich kam aus dem Haus, um zur Arbeit zu gehen. Ich hatte
einen Kumpel namens Wiggy, der Nachtwächter auf einem Parkplatz war, und der
hatte einen Kumpel namens Stevo, der Türsteher in einem Club war. Wenn Stevo
mal einen Abend freihaben wollte, sprang Wiggy für ihn ein, und ich sprang für
Wiggy ein, jeder kriegte sein Geld bar auf die Hand, und jeder war zufrieden.
    Rosie
lehnte am Treppengeländer vor Haus Nummer 4, mit Imelda Tierney und Mandy
Cullen, ein hübsches, kicherndes Gespann aus blumigen Gerüchen und wallenden
Haaren und glänzendem

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