French, Tana
»Wir sehen mal nach, wo Julie bleibt, ja?«
Rosie
zuckte die Achseln. »Von mir aus.«
»Bis dann,
Frankie«, sagte Mandy und schenkte mir ein kesses Grübchengrinsen. »Grüß Shay
von mir, ja?«
Als Rosie
sich zum Gehen wandte, senkte sich ein Augenlid, und ihre Lippen spitzten sich
kaum merklich: ein Zwinkern und ein Kuss. Dann lief sie die Stufen von Nummer 4
hinauf und verschwand, hinein in den dunklen Hausflur und hinaus aus meinem
Leben.
Ich
verbrachte Hunderte Nächte damit, in einem Schlafsack, umgeben von den
übelriechenden Rockern und Keith Moon, wach zu liegen und jene letzten fünf
Minuten auf der Suche nach einem Hinweis auseinanderzunehmen. Ich dachte, ich
würde den Verstand verlieren: Es musste doch irgendeinen Fingerzeig gegeben
haben, ganz bestimmt, aber ich hätte auf alle Heiligen geschworen, dass ich
nichts übersehen hatte. Und nun sah es auf einmal ganz danach aus, dass ich
vielleicht doch nicht total bescheuert, doch nicht der naivste Trottel der Welt
gewesen war. Ich könnte einfach schlichtweg richtiggelegen haben. Die
Trennlinie war unglaublich dünn.
Der
Abschiedsbrief hatte nichts enthalten, nicht das Geringste, was darauf
hindeutete, dass er an mich gerichtet war. Ich hatte ihn automatisch so
aufgefasst. Schließlich war ich ja derjenige, den sie sitzenließ. Doch unser
ursprünglicher Plan hatte vorgesehen, eine ganze Menge andere Leute in jener
Nacht sitzenzulassen. Der Brief hätte für ihre Familie gewesen sein können, für
ihre Freundinnen, für alle am Faithful Place.
In unserem
alten Zimmer machte Dad ein Geräusch wie ein Wasserbüffel, der stranguliert
wird. Kevin brummte im Schlaf und drehte sich um, so dass sein ausgestreckter
Arm auf meine Knöchel schlug. Der Regen fiel jetzt gleichmäßig und schwer,
würde so bald nicht aufhören.
Wie
gesagt, ich tue, was ich kann, um dem Schlag unter die Gürtellinie einen
Schritt vorauszubleiben. Für den Rest des Wochenendes jedenfalls musste ich von
der Vermutung ausgehen, dass Rosie Faithful Place nicht lebend verlassen
hatte.
Am
nächsten Morgen würde ich zunächst die Dalys überzeugen müssen, den Koffer in
meine fähigen Hände zu geben und lieber nicht die Polizei zu verständigen, und
dann musste ich möglichst bald mit Imelda und Mandy und Julie reden.
Ma stand
gegen sieben Uhr auf. Ich hörte durch den Regen hindurch die Bettfedern
quietschen, als sie sich von der Matratze hievte. Auf dem Weg in die Küche
blieb sie einen langen Augenblick in der offenen Tür zum Wohnzimmer stehen und
blickte auf mich und Kevin hinunter, dachte Gott weiß was.
Ich hielt
die Augen geschlossen. Schließlich schniefte sie, ein schmerzliches, kleines
Geräusch, und ging weiter.
Das
Frühstück war die volle Ladung: Spiegeleier, gebratener Speck, Würstchen,
gebackene Blutwurst, geröstetes Brot, Grilltomaten. Das sollte offenbar
irgendetwas aussagen, aber ich kam nicht dahinter, ob Wie du
siehst, kommen wir auch prima ohne dich klar oder Ich
rackere mich noch immer für dich ab, obwohl dus nicht verdient hast oder
womöglich Wenn du von dieser Cholesterinbombe einen Herzinfarkt
kriegst, sind wir endlich quitt. Keiner erwähnte den Koffer.
Anscheinend spielten wir »glückliche Familie beim Frühstück«, was mir nur
recht war. Kevin schaufelte alles in Reichweite in sich hinein und warf mir
verstohlene Blicke über den Tisch zu, wie ein Kind, das einen Fremden taxiert.
Dad aß schweigend, bis auf das gelegentliche Knurren, wenn er einen Nachschlag
wollte. Ich behielt das Fenster mit einem Auge im Blick und fing an, Ma zu
bearbeiten.
Mit
direkten Fragen würde ich mir nur Vorwürfe einhandeln: Ach nee,
auf einmal interessieren dich die Nolans; zweiundzwanzig Jahre lang war dir
völlig egal, wie es irgendeinem von uns hier ergangen ist, oder so
ähnlich. Der Zugang zur Datenbank meiner Ma klappt nur über den Umweg der
Missbilligung. Am Abend zuvor war mir aufgefallen, dass das Haus Nummer 5 in
einem besonders entzückenden Babyrosa gestrichen worden war, was ganz bestimmt
bei so manchem Unmut erregt hatte. »Nummer fünf ist hübsch renoviert worden«,
sagte ich, um ihren Widerspruchsgeist zu wecken.
Kevin warf
mir einen verblüfften »Hast du sie noch alle«-Blick zu. »Sieht aus, als hätte
ein Teletubby draufgekotzt«, sagte er mit vollen Backen.
Mas Lippen
verschwanden. »Yuppies«, sagte sie, als wäre das eine Krankheit. »Die arbeiten
alle beide in der IT-Branche, was immer das auch heißt. Du wirst es nicht
glauben:
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