French, Tana
dass du es tun musst, so oder so.
Manchmal bleibt einem keine Wahl.«
Holly war
in ihrem Kindersitz zurückgesunken. Sie atmete tief durch und wollte etwas
sagen, doch stattdessen presste sie eine Hand auf den Mund und fing an zu
weinen.
Ich war
drauf und dran, auszusteigen und mich zur ihr nach hinten zu setzen, um sie in
den Arm zu nehmen. Doch dann traf mich die Erkenntnis: Da weinte kein kleines
Kind, das darauf wartete, dass sein Daddy es in die Arme schloss und alles
wiedergutmachte. Das hatten wir hinter uns gelassen, irgendwo am Faithful
Place.
Stattdessen
streckte ich meine Hand aus und nahm Hollys. Sie klammerte sich fest, als
drohte sie abzustürzen. Wir blieben lange so sitzen. Sie hatte den Kopf ans
Seitenfenster gelehnt, und ihr ganzer Körper wurde von mächtigem, stummem
Schluchzen erschüttert. Hinter uns hörte ich Männerstimmen, die ein paar schroffe
Sätze wechselten, dann schlugen Autotüren, und dann fuhr Stephen davon.
Wir hatten
beide keinen Hunger. Ich brachte Holly trotzdem dazu, etwas zu essen, ein
radioaktiv aussehendes Käsecroissant, das wir unterwegs bei Centra kauften,
eher mir zuliebe als ihr. Dann fuhr ich sie zurück zu Olivia.
Ich parkte
vor dem Haus und drehte mich zu Holly um. Sie lutschte an einer Haarsträhne und
blickte mit großen, ruhigen, verträumten Augen aus dem Fenster, als hätten
Erschöpfung und Überlastung sie in einen Trancezustand versetzt. Irgendwann
während der Fahrt hatte sie Clara aus ihrer Tasche gezogen.
Ich sagte:
»Du hast deine Matheaufgaben nicht fertig gemacht. Kriegst du deshalb Ärger
mit Mrs O'Donnell?«
Eine
Sekunde lang sah Holly aus, als hätte sie vergessen, wer Mrs O'Donnell ist.
»Ach. Mir doch egal. Die ist doof.«
»Glaub ich
dir. Aber ich finde, du solltest dir nicht auch noch ihr Gemecker wegen der
Hausaufgaben anhören müssen. Wo ist dein Heft?«
Sie kramte
es in Zeitlupe hervor und reichte es mir. Ich blätterte bis zur ersten freien
Seite und schrieb: Liebe Mrs O'Donnell, bitte
entschuldigen Sie, dass Holly ihre Mathehausaufgaben nicht vollständig gemacht
hat. Sie fühlte sich am Wochenende nicht ganz wohl. Falls das ein Problem ist,
rufen Sie mich bitte an. Vielen Dank. Frank Mackey. Auf der
gegenüberliegenden Seite sah ich Hollys runde, penible Handschrift: Wenn
Desmond 342 Äpfel hat...
»Hier«,
sagte ich und gab ihr das Heft zurück. »Falls sie dir irgendwie komisch kommt,
gib ihr meine Telefonnummer und sag ihr, sie soll dich in Ruhe lassen. Okay?«
»Ja.
Danke, Daddy.«
Ich sagte:
»Deine Mutter sollte darüber Bescheid wissen. Ich werd's ihr erklären.«
Holly
nickte. Sie verstaute ihr Heft, blieb aber sitzen und klickte ihren
Sicherheitsgurt auf und zu. Ich sagte: »Was geht dir durch den Kopf, Häschen?«
»Du und
Nana, ihr wart gemein zueinander.«
»Stimmt.
Waren wir.«
»Wieso?«
»Es war
nicht richtig. Aber hin und wieder gehen wir uns einfach gegenseitig auf die
Nerven. Auf der ganzen Welt kann einen nichts so aufregen wie die eigene
Familie.«
Holly
stopfte Clara in die Tasche und schaute auf sie hinunter, streichelte die
abgewetzte Nase mit einem Finger. »Wenn ich irgendwas Schlimmes machen würde«,
sagte sie, »würdest du die Polizei dann anlügen, damit mir nix passiert?«
»Ja«,
sagte ich. »Für dich würde ich die Polizei und den Papst und den Präsidenten
der Welt anlügen, bis ich Fransen am Mund hätte. Es wäre falsch, aber ich
würd's trotzdem tun.«
Holly erschreckte
mich fast zu Tode, als sie sich plötzlich zwischen die Sitze vorbeugte, ihre
Arme um meinen Hals schlang und ihre Wange an meine drückte. Ich zog sie so
fest an mich, dass ich ihren Herzschlag an meiner Brust spürte, rasend und
leicht wie bei einem kleinen wilden Tier. Ich musste ihr Millionen Dinge sagen,
die alle bedeutsam und wichtig waren, aber ich brachte keines davon über die
Lippen.
Schließlich
seufzte Holly, einen langen, zittrigen Seufzer, und löste sich wieder von mir.
Sie stieg aus dem Wagen und wuchtete sich ihre Schultasche auf den Rücken.
»Wenn ich mit diesem Stephen reden muss«, sagte sie. »Geht das auch nicht am
Mittwoch? Da will ich nämlich bei Emily zu Hause spielen.«
»Das ist
überhaupt kein Problem, Schätzchen. Welcher Tag dir am besten passt. Jetzt
lauf. Ich komm gleich nach. Ich muss nur noch jemanden anrufen.«
Holly
nickte. Sie ließ matt die Schultern hängen, aber auf dem Weg zur Haustür
schüttelte sie leicht den Kopf und nahm Haltung an. Als Liv die Tür öffnete
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