French, Tana
weitererzählen muss, weil
jemand anderes das Recht hat, es zu erfahren?«
Achselzucken.
»Na und?«
»Und das
ist so ein Geheimnis. Stephen versucht rauszufinden, was mit Rosie passiert
ist.« Ich ließ Kevin unerwähnt. Holly hatte ohnehin schon so unendlich viel
mehr zu verkraften, als gut für sie war. »Das ist sein Job. Und um den machen
zu können, muss er deine Geschichte hören.«
Verstärktes
Achselzucken. »Mir doch egal.«
Nur für
eine Sekunde erinnerte mich die trotzige Neigung ihres Kinns an Ma. Ich kämpfte
gegen jeden Instinkt an, den sie besaß, gegen alles, was ich direkt aus meinen
Adern in ihre Blutbahn geschickt hatte. Ich sagte: »Es darf dir aber nicht egal
sein, Schätzchen. Geheimnisse zu hüten ist wichtig, aber manchmal ist es sogar
noch wichtiger, die Wahrheit herauszufinden. Und das ist fast immer der Fall,
wenn jemand getötet worden ist.«
»Gut. Dann
soll dieser Stephen doch andere Leute ärgern und mich in Ruhe lassen, weil ich
nämlich glaube, dass Onkel Shay überhaupt nix Böses gemacht hat.«
Ich sah
sie an, angespannt und kratzbürstig und funkensprühend wie eine in die Enge
getriebene kleine Wildkatze. Noch wenige Monate zuvor hätte sie fraglos getan,
worum ich sie gebeten hatte, und trotzdem ihren Glauben an den lieben Onkel
Shay bewahrt. Es kam mir so vor, als würde jedes Mal, wenn ich sie sah, das
Hochseil dünner und der Abgrund darunter tiefer, bis ich irgendwann
zwangsläufig das Gleichgewicht verlieren, einen einzigen Fehltritt tun und uns
beide abstürzen lassen würde.
Ich sagte
mit bemüht gelassener Stimme: »Okay, Kleines. Dann beantworte mir eine Frage.
Du hast das heute ziemlich sorgfältig geplant, nicht?«
Wieder
dieses misstrauische blaue Augenblitzen. »Nein.«
»Ach komm,
Häschen. Bei so was kannst du mir nichts vormachen. Es ist mein Beruf, solche
Dinge zu planen. Und ich kriege es mit, wenn andere das tun. Damals, als wir
beide das erste Mal über Rosie gesprochen haben, da hast du angefangen über den
Brief nachzudenken, den du gesehen hattest. Also hast du mich nach ihr gefragt,
harmlos und beiläufig, und als du erfahren hast, dass sie meine Freundin war,
ist dir klargeworden, dass der Brief von ihr sein musste. Und dann hast du
dich gewundert, wieso dein Onkel Shay einen Brief von einem toten Mädchen bei
sich zu Hause in der Schublade liegen hat. Sag's ruhig, wenn ich falschliege.«
Keine
Reaktion. Sie in die Enge zu treiben wie eine Zeugin machte mich so müde, dass
ich am liebsten vom Sitz gerutscht und im Fußraum eingeschlafen wäre. »Also
hast du mich bearbeitet, bis du mich dazu gebracht hast, heute mit dir zu deiner
Nana zu fahren. Du hast dir deine Mathehausaufgaben bis ganz zum Schluss
aufgehoben, damit du sie mitnehmen und als Vorwand benutzen konntest, deinen
Onkel Shay unter vier Augen zu sprechen. Und dann hast du so lange auf ihn
eingeredet, bis er angefangen hat, von dem Brief zu erzählen.«
Holly
kaute fest auf der Innenseite ihrer Lippe. Ich sagte: »Ich bin dir nicht böse.
Du hast das alles ziemlich gut eingefädelt. Ich sag dir nur, wie's war.«
Achselzucken.
»Na und?«
»Jetzt
kommt meine Frage: Wenn du nicht glaubst, dass dein Onkel Shay irgendwas Böses
gemacht hat, wieso hast du dir dann so viel Mühe gegeben? Wieso hast du mir
nicht einfach erzählt, was du gefunden hast, und mich mit ihm drüber reden
lassen?«
Fast
unverständlich leise und nach unten in ihren Schoß gesprochen: »Weil dich das
nix anging.«
»Doch,
Zuckerschnute, es ging mich was an. Und das wusstest du auch. Du wusstest,
dass Rosie mir viel bedeutet hat, du weißt, dass ich Polizist bin, und du
wusstest, dass ich herausfinden wollte, was mit ihr passiert ist. Damit ging
mich der Brief sehr wohl was an. Außerdem hatte dich da noch keiner gebeten,
das mit dem Brief als Geheimnis zu bewahren. Also warum hast du mir nichts
davon erzählt, es sei denn, du wusstest, dass daran irgendwas faul war?«
Holly
zupfte vorsichtig einen roten Wollfaden aus dem Ärmel ihrer Strickjacke, zog
ihn in die Länge und inspizierte ihn. Einen Moment lang dachte ich, sie würde
antworten, doch stattdessen fragte sie: »Wie war Rosie so?«
Ich sagte:
»Sie war mutig. Sie war dickköpfig. Sie war lustig.« Ich wusste nicht, wohin
das führen würde, doch Holly betrachtete mich aufmerksam von der Seite, als
hinge viel von meiner Antwort ab. Das mattgelbe Licht der Straßenlampen machte
ihre Augen dunkler und undurchdringlicher, schwerer zu lesen. »Sie mochte
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