French, Tana
die Verletzungen auf einen Sturz aus
mindestens sechs Metern Höhe hin. Und er ist schnurgerade gefallen. Aus diesem
Fenster.«
»Nein.
Kevin fand das Haus immer furchtbar. Am Samstag musste ich ihn praktisch am
Schlafittchen hier reinziehen, und dann hat er die ganze Zeit rumgejammert,
über Ratten und wie gruselig es hier ist und dass die Decke einstürzt, und das
war am helllichten Tag, und wir waren zu zweit. Was zum Teufel sollte er hier
ganz allein zu suchen haben, mitten in der Nacht?«
»Das
würden wir auch gern wissen. Ich hab mich gefragt, ob er vielleicht auf dem
Nachhauseweg pinkeln musste und hier rein ist, damit ihn keiner sieht, aber
wieso sollte er dann bis hier raufgehen? Er hätte doch einfach zum Flurfenster
rauspinkeln können, falls er unbedingt den Garten begießen wollte. Keine
Ahnung, wie das bei dir ist, aber wenn ich spätabends ein bisschen
angeschlagen bin, steige ich ohne triftigen Grund keine Treppen rauf.«
Im selben
Augenblick begriff ich, dass die Flecken am Fensterrahmen kein Schmutz waren,
sondern Fingerabdruckpulver, und gleichzeitig wurde mir klar, warum Rockys
Anblick in mir ein so widerwärtiges Gefühl ausgelöst hatte. Ich sagte: »Was
machst du hier?«
Rockys
Augenlider flackerten. Er wählte seine Worte mit Bedacht: »Zuerst haben wir an
einen Unfall gedacht. Dein Bruder kommt hier hoch, warum auch immer, und steckt
aus irgendeinem Grund den Kopf zum Fenster raus — vielleicht hat er im Garten
ein Geräusch gehört, vielleicht ist ihm schlecht vom Alkohol, und er glaubt, er
muss sich übergeben. Er beugt sich raus, verliert das Gleichgewicht, kann sich
nicht festhalten ...«
Irgendetwas
Kaltes traf mich hinten in der Kehle. Ich biss die Zähne aufeinander, hielt es
fest.
»Aber ich
hab ein bisschen rumexperimentiert, um das mal durchzuspielen. Hamill, der Typ
unten am Flatterband? Der hat in etwa die Größe und Statur von deinem Bruder.
Er hat fast den ganzen Morgen für mich da aus dem Fenster gehangen. Es haut
nicht hin, Frank.«
»Wovon
redest du?«
»Hamill
geht das Schiebefenster ungefähr bis hier.« Rocky legte eine Handkante an seine
Rippen. »Um den Kopf drunterzukriegen, muss er die Knie beugen, und dadurch
senkt er das Hinterteil, wodurch sein Schwerpunkt sicher im Raum bleibt. Wir
haben es auf alle möglichen Arten probiert, immer mit demselben Resultat. Es
wäre so gut wie unmöglich für jemanden von Kevins Größe, aus Versehen aus dem
Fenster zu fallen.«
Das Innere
meines Mundes fühlte sich eiskalt an. Ich sagte: »Jemand hat ihn gestoßen.«
Rocky zog
seine Jacke ein Stück hoch und schob die Hände in die Taschen. Er sagte
vorsichtig: »Wir haben keinerlei Anzeichen dafür, dass ein Kampf stattgefunden
hat, Frank.«
»Was
willst du damit sagen?«
»Wenn er
mit Gewalt aus dem Fenster gestoßen worden wäre, müsste es Schleifspuren auf
dem Fußboden geben, Absplitterungen am Holz, wo er rausgefallen ist,
abgebrochene Fingernägel, weil er nach dem Angreifer oder dem Fensterrahmen
gepackt hat, vielleicht Kratzer und Blutergüsse vom Kampf. Wir haben nichts
dergleichen gefunden.«
Ich sagte:
»Du willst damit sagen, dass Kevin sich umgebracht hat.«
Rocky
schaute weg. Er sagte: »Ich will damit sagen, dass es kein Unfall war und dass
nichts darauf hindeutet, dass er gestoßen wurde. Laut Cooper sind alle seine
Verletzungen mit dem Sturz zu erklären. Er war ein kräftiger Bursche, und nach
meinen bisherigen Erkenntnissen war er gestern Abend zwar betrunken, aber er
war nicht hackevoll. Er hätte sich auf jeden Fall gewehrt.«
Ich holte
tief Luft. »Okay«, sagte ich. »In Ordnung. Da ist was dran. Aber komm doch mal
kurz her. Ich möchte dir was zeigen.«
Ich führte
ihn zum Fenster. Er warf mir einen argwöhnischen Blick zu. »Was ist denn?«
»Schau
doch mal aus diesem Blickwinkel in den Garten. Und achte auf die Stelle, wo er
unten ans Haus grenzt. Dann siehst du, was ich meine.«
Er stützte
sich auf die Fensterbank und reckte den Hals unter dem Schiebefenster durch.
»Wo?«
Ich
versetzte ihm einen Stoß, der fester ausfiel als geplant. Für einen
Sekundenbruchteil fürchtete ich schon, ich würde ihn nicht wieder hereinziehen
können. Ein winziger, tiefverborgener Teil von mir war hellauf begeistert.
»Menschenskind!«
Rocky sprang vom Fenster zurück und starrte mich mit aufgerissenen Augen an.
»Hast du sie noch alle?«
»Keine
Schleifspuren, Rocky. Kein gesplitterter Fensterrahmen, keine abgebrochenen
Fingernägel, keine
Weitere Kostenlose Bücher