Freuet Euch, Bernhard kommt bald!: 12 unweihnachtliche Weihnachtsgeschichten (German Edition)
Mann geben würde. Einfache Texte, mit ein bisschen Talent war das machbar.
»Warum wollen Sie sich denn gleich umbringen«, sagte der Mann. »Kommen Sie, lassen Sie sich nicht so hängen. Wissen Sie was, ich gebe Ihnen einen aus. Gleich hier um die Ecke.«
Tischler sagte: »Ich will mich doch nicht umbringen. Ich lebe gern. Ich will nur die Reset-Taste drücken, verstehen Sie.«
Der Mann hieß Grigori. Er hatte in Russland Informatik und Literatur studiert und lebte seit zehn Jahren in Deutschland. Am Anfang hatte er gekellnert, seit einigen Jahren reparierte er bei Privatleuten Computer, beseitigte Viren oder behob Softwareprobleme. Grigori lebte in einer Einzimmerwohnung in Hellersdorf.
»Ich glaube nicht, dass dir mein Leben mehr Spaß macht als deines«, sagte Grigori. »Und wenn du meine Wohnung siehst, kriegst du einen Schreck, das garantiere ich.«
»Ich rede nicht über einen Tausch«, sagte Tischler. »Es ist wirklich ein Geschenk. Heute ist Weihnachten. Da gibt es Geschenke. Meine Wohnung ist ganz hübsch. Das Schreiben kriegst du hin, glaube ich. Dein Deutsch ist nicht schlecht. Lass die Texte durch ein Korrekturprogramm laufen, bevor du sie abschickst.«
»Und was wird aus dir, Max? Was hast du vor?«
Tischler sagte, dass er noch einmal Geld abheben wolle, nicht viel, genug für ein Flugticket und ein, zwei Wochen. Er brauche nur den Ausweis von Grigori, ohne Ausweis kommt man nicht weit.
»Wenn dir dein Leben nicht gefällt«, sagte Grigori, »wieso sollte es dann mir gefallen? Du verschenkst etwas, das du hässlich findest, Max. Ich weiß wirklich nicht, ob ich dafür dankbar sein sollte.«
Tischler sagte, dass sein Leben, objektiv betrachtet, gar nicht so schlecht sei. Manche wären sicher neidisch darauf. Er verdiene relativ gut, er habe einen Namen, keinen großen, aber groß genug, um nicht ganz unterzugehen. Es sei nur nicht das Richtige für ihn, irgendetwas stimme nicht, und er sei müde, darüber nachzudenken, was es sei.
»Du musst dich verlieben, Max. Dann macht das Leben wieder Spaß.«
Tischler sagte, dass Unglück seiner Erfahrung nach auf potentielle Sexualpartner die gleiche Wirkung besitze wie ein schlechtes Parfüm.
»Wer beschenkt hier wen?«, sagte Grigori und lachte. »Na gut, dann lass uns jetzt über die Details reden. Danach entscheide ich.«
Es war später Nachmittag, als sie am Flughafen ankamen. Sie hatten einige Stunden lang in der Bar, gleich um die Ecke, über die Details gesprochen und waren beide ein wenig betrunken. Grigori sagte, dass man ein Geschenk auch ordentlich verpacken muss, das gehört sich so. Tischler verpackte seine wichtigsten Papiere in eine Serviette und platzierte das Geschenk in der Mitte des festlich leuchtenden Adventskranzes.
Der Flug, der am schnellsten zu kriegen war, ging nach Odessa. Dort arbeitete Tischler als Türsteher einer Nachtbar für Touristen, später als Kellner, wie Grigori in seiner ersten Zeit in Deutschland. Dass er, als Russe, nur sehr schlecht Russisch sprach, erklärte er damit, dass er von Deutschen als kleiner Junge adoptiert worden sei – die Adoptiveltern hätten aber vergessen, ihm einen deutschen Pass zu besorgen. In Russland sind die Leute daran gewöhnt, absurde Geschichten zu glauben. Ein paar Monate später flog er nach Costa Rica, weil ihm der Name des Landes gefiel. Er wurde Tauchlehrer und eröffnete mit der Frau, die er dort kennengelernt hatte, ein kleines Strandhotel.
In den folgenden Jahren las er hin und wieder seinen Namen in internationalen Magazinen. Max Tischler war inzwischen eine Berühmtheit, auf Fotos war zu erkennen, dass Max Tischler und er sich immer noch ziemlich ähnlich sahen. Manchmal glaubte er, eine leichte Traurigkeit auf dem Fotogesicht zu erkennen – aber, wer weiß, vielleicht war das nur eine Projektion. Grigori war vermutlich ein ganz anderer Mensch als er. Und jedes Jahr am Heiligen Abend stieß er mit seiner Freundin und seinen Freunden auf den Menschen an, dem er, vor langer, langer Zeit, zu Weihnachten sein Leben geschenkt hatte. Seinen Erlöser.
Das Fest, etwas später
Rainers Vater hatte beschlossen, dass es höchste Zeit war für eine gute Zigarre. Eine gute Zigarre, und schon sieht das Leben anders aus. Nachdem er seine Zigarette ausgedrückt hatte, was Gudrun mit einem dankbaren Kopfnicken zur Kenntnis nahm, befreite er die Zigarre von der Plastikfolie, in die sie eingewickelt war, schnitt mit seinem zum Glück noch unbenutzten Messer ein kleines Stück vom Ende
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