Freuet Euch, Bernhard kommt bald!: 12 unweihnachtliche Weihnachtsgeschichten (German Edition)
geht auf die Hundert zu. Du musst nicht in diesem Ton mit ihm sprechen. Dauernd hackst du auf ihm herum. Seit Jahren schon.«
»Was soll an Gudruns Ton denn falsch sein?«, fragte Rainer.
In diesem Augenblick klingelte es an der Tür. Gudrun stand auf. Rainer begleitete sie. Wer, um Himmels willen, klingelte am Heiligen Abend um neunzehn Uhr unangemeldet an der Haustür?
Rainer erinnerte sich, etwas über eine Mordserie gelesen zu haben. Der sogenannte Weihnachtsmörder. Er schlug immer am Heiligen Abend zu.
»Warte mal kurz«, sagte Rainer zu Gudrun. Dann holte er aus dem Werkzeugkasten im Wohnzimmerschrank die große Rohrzange. Besser als gar nichts.
Sie schauten beide durch den Spion in der Tür. Es war ein Paar. Der Mann, etwa fünfzig, trug Anzug, etwas zerknittert allerdings, und Krawatte. Keinen Mantel. Er war auffällig blass. Die Zeugen Jehovas vielleicht? Um diese Zeit? Der Mann kam ihm allerdings irgendwie bekannt vor. Er hatte diesen Mann schon einmal gesehen, garantiert. Die Frau war jünger, breitschultrig und trug ein helles Etuikleid mit silbrigem Mantel darüber. Irgendwie erinnerte sie an diese Schwimmerin, Franziska van Almsick.
Gudrun schob die Kette vor, zur Sicherheit, und öffnete die Tür einen Spaltbreit. Die Frau lächelte. Ihr Lächeln wirkte sympathisch. Dann sprach sie. Sie sprach relativ lange.
»Ich wünsche euch ein gesegnetes Weihnachtsfest. Verzeiht die Störung. Erschreckt nicht. Der Heilige Abend ist ein besonderer Abend. Die Tore des Himmels öffnen sich ein wenig, und wir dürfen, nur heute, Kontakt mit den Sterblichen aufnehmen. Meinen Namen werde ich euch nicht nennen, vielleicht könnt ihr ihn erraten. Dieser Mann hier, mein Begleiter, ist ein Sterblicher. Er wollte heute etwas Wunderbares tun, etwas, das uns im Himmel sehr gut gefallen hat. Er hat seinen Stolz und seine Scham überwunden, aus Liebe. Er ist zu seinem Kind zurückgekehrt. Er wollte neu beginnen. Ein reuiger Sünder gefällt uns besser als tausend Gerechte. Aber manchmal unterläuft uns ein Missgeschick. Wir haben euch Menschen die Freiheit gegeben, wir können nicht alles steuern. Dieser Mann ist auf seinen Ledersohlen ausgerutscht und hat sich den Hals gebrochen, bevor er sich mit seinem Kind aussöhnen konnte. Deshalb haben wir beschlossen, dass er eine zweite Chance bekommt.«
Es klang, als ob sie es auswendig gelernt hätte. Das waren Verrückte, so viel stand fest. Gefährlich wirkten sie nicht. Aber was heißt das schon?
»Lasst diesen Mann ein. Er wird versuchen, euch zu versöhnen. Er bringt euch die Frohe Botschaft. Er kennt die Liebe. Wenn es ihm gelingt, dass ihr einander verzeiht und dass ihr gemeinsam ein Fest feiert, dann werden wir ihm das Leben zurückgeben, dann wird er zu seinem Kind zurückkehren und sich mit der Mutter seines Kindes versöhnen. Ihr aber werdet mit dem schönsten Weihnachtsfest eures Lebens beschenkt werden. Es ist eure Entscheidung. Ihr seid frei.«
Rainer und Gudrun schauten sich an. »Nein, danke«, sagte Gudrun. »Ich glaube, wir kaufen nichts.« Dann schloss sie die Tür.
Holz spürte, wie die Wärme langsam wieder aus seinem Körper wich. Der Engel, oder was immer dieses Geschöpf sein mochte, legte kurz die Hand auf seine Schulter.
»Es war ein Versuch«, sagte das Geschöpf. »Ich habe mich wirklich voll eingebracht. An mir hat’s nicht gelegen.«
»Es war ein Spiel«, sagte Holz. »Ich dachte, Gott würfelt nicht, so heißt es doch immer.«
Träumte er? Oder passierte das wirklich?
»Denk mal nach, Holz. Der Zufall ist unsere Erfindung«, sagte das Geschöpf. »Wenn du es so nennen willst – ja, wir würfeln. Den Zufall haben wir erfunden, weil wir uns ungern langweilen. Ein allmächtiger Gott, auf so eine Idee können nur Menschen kommen. Allmacht ist was für Kontrollfreaks. Also dann. Man sieht sich.« Das Geschöpf verschwand.
Holz war wieder allein. Das alles war nur passiert, weil er, als er zu seiner Tochter ging, die guten Schuhe mit den Ledersohlen anhatte. Ohne die Ledersohlen wäre er nicht ausgerutscht, ohne Ledersohlen hätte er sich nicht den Hals gebrochen und wäre nicht in dieser miesen, existentialistischen Situation.
Er wusste nicht, wo er jetzt hinsollte. Falls er tot war, wofür nach Lage der Dinge einiges sprach, dann mussten die auf der anderen Seite seinen Transport übernehmen, wohin auch immer. Da drüben musste es auch Chauffeure geben. Holz stand im Garten, wandte sich nach links und sah ein Licht. Auf das Licht zugehen,
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