Freuet Euch, Bernhard kommt bald!: 12 unweihnachtliche Weihnachtsgeschichten (German Edition)
nun, in seiner Lage war das vermutlich das einzig Richtige. So stand es seines Wissens auch in den Büchern von Elisabeth Kübler-Ross. Gehe immer auf das Licht zu.
Das Licht kam aus einem Fenster. Das Fenster stand offen. Holz sah einen Jungen, oder einen jungen Mann. Er rauchte.
»Ich habe mitgehört«, rief der junge Mann halblaut. »Sie sehen furchtbar aus. Wie ein Vampir. Was ist Ihnen passiert?«
»Womöglich bin ich ein Vampir«, sagte Holz. »Ich weiß es selbst nicht genau.«
»Wenn Sie wirklich ein Vampir sind, werden meine Schwestern voll auf sie abfahren«, sagte der junge Mann. »Warten Sie. Ich lasse Sie durch die Hintertür rein. Gehen Sie einfach weiter, ums Haus herum.«
An der Tür wartete er auf Holz. »Ich heiße Tobias und bin computersüchtig«, sagte der junge Mann. »Kommen Sie erst mal in mein Zimmer.«
»Angenehm, Holz«, sagte Holz. »Ich bin Minister.«
Das Zimmer von Tobias sah wirklich aus wie eine Drogenhöhle. Leere Chipstüten, leere Flaschen, Teller, in denen bereits der Schimmel wucherte, schmutzige Hemden und Unterhosen, auf dem Boden verstreut.
»Man muss Prioritäten setzen«, sagte Tobias, der Holz’ Blick richtig gedeutet hatte. Rudimentäre kommunikative Fähigkeiten besaß er also noch. An der Wand hing ein einziges Poster. Es zeigte einen übergewichtigen älteren Mann mit ungepflegtem Bart, nicht gerade das, was man im Zimmer eines Zwanzigjährigen erwartet.
»Sloterdijk. Mein Lieblingsphilosoph«, sagte Tobias. »Mehr Verwirrung wagen. Unglück muss man aushalten, es ist weniger schlimm als Elend. Die ganze Scheiße der letzten hundert Jahre geht darauf zurück, dass die Menschen das Paradies auf Erden verwirklichen wollen, statt sich mit dem Zufall und dem Unglück abzufinden und das Paradies den Religionen zu überlassen. Geile Texte, sollten Sie mal lesen.«
Dieser Tobias war ein interessanter Junge.
»Und jetzt?«, fragte Holz. Er spürte, wie das Leben langsam in ihn zurückfloss.
»Soweit ich das mitgekriegt habe, sind Sie eine Art Messias im Westentaschenformat. Ich schlage vor, Sie machen sich an die Arbeit. Meine Oma und meine Tante sind die härtesten Nüsse. Aber mein Vater ist auch eine Herausforderung.«
Das Geschenk
Max Tischler wachte gegen acht Uhr auf, obwohl er in der Nacht lange gearbeitet hatte. Bis drei, bis vier, er wusste es nicht mehr genau. Um Mitternacht hatte er eine Modafinil geschluckt. Früher konnte er mit einer Modafinil ewig weitermachen, da brauchte er praktisch überhaupt keinen Schlaf. Aber die Wirkung ließ allmählich nach. Jetzt glitt er trotz Pille irgendwann in diesen flachen, unruhigen Dämmerzustand, den er hasste. Wenn er Glück hatte, fand er sich morgens auf seiner Couch. Wenn er Pech hatte, war er am Schreibtisch weggekippt und spürte am folgenden Tag jeden einzelnen Knochen.
Das Dumme war, dass er sich beim Aufwachen wieder einmal genau an seinen Traum erinnern konnte. Meistens träumte er das Gleiche. Er fiel, er stürzte, von einer Brücke, von einem Dach, von irgendwas, und der Sturz hörte überhaupt nicht mehr auf, er fiel in eine Unendlichkeit hinein, er fiel, bis er aufwachte und ins Bad kroch, um zu kotzen. Danach fühlte er sich besser und warf die Kaffeemaschine an.
Tischler überlegte, dass er zum Yoga gehen könnte, um zehn fing immer ein Kurs an. Er war schon dabei, sein Zeug zusammenzupacken, als ihm einfiel, dass heute Weihnachten war. Da hatte das Studio sicher geschlossen. Umso besser. Es war vernünftiger, weiterzuarbeiten und das Projekt endlich abzuschließen.
Der Text musste nach den Feiertagen unbedingt fertig sein, das war seine allerletzte Deadline. Zehntausend Zeichen für ein neues Magazin, das sich den Schönheiten des Landlebens widmete. Landleben war der große Bringer, neuerdings. In seinem Text ging es darum, Blumenkübel selber zu töpfern, zu bemalen, zu glasieren, das war gar nicht so schwierig und ein super Thema für die Winterzeit, wenn der fleißige Landmensch draußen nichts zu tun findet. Tischler hatte ein paar Interviews geführt und blickte inzwischen halbwegs durch. Das Thema interessierte ihn nicht. Daran, über uninteressantes Zeug zu schreiben, war er gewöhnt. Wählerisch zu sein, konnte er sich nicht leisten. Der Text brachte tausend Euro, zwei Tage Recherche, zwei bis drei Tage Schreiben, schon okay.
Er wäre auch rechtzeitig fertig geworden, normaler weise. Vor ein paar Tagen hatte allerdings Gabriel angerufen, von der Talkshow, für die Tischler manchmal
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