Freunde müssen töten - Thriller (German Edition)
können. Wir haben die ganze Angelegenheit dann eben als das gewertet, was es wirklich war: Kleinmädchengeschwätz!“
„Ach, und sechs Jahre nach diesem Kleinmädchengeschwätz, wie Sie es ausdrücken, verschwindet Ihre Tochter und das ist für Sie das Normalste auf der Welt.“
„Was ist schon normal, Chefinspektor.“
Kopfschüttelnd starrte Braun an Cordula Wagner vorbei aus dem Fenster in den Nebel, der das Haus wie eine schwarze Haut umschloss und langsam erstickte. Er zerrte an seinem T-Shirt, das plötzlich unerträglich eng um seinen Hals schloss.
„In all den Jahren haben Sie sich nie gefragt, ob Ihre Tochter noch lebt oder vielleicht schon tot ist?“ Verständnislos fuhr sich Braun durch die Haare.
„Es ging immer darum, unsere Privatsphäre zu schützen!“, fauchte Cordula Wagner und drehte die Zigarette nervös zwischen den Fingern. „Sie kennen so etwas nicht! Sie stochern ja gerne im Leben anderer Leute herum! Das ist Ihr Beruf!“ Hektisch steckte sich Cordula Wagner die Zigarette in den Mund, zündete sie jedoch nicht an. „Sie wissen nicht, was Privatsphäre bedeutet. Denn Sie haben ja keinen Namen. Sie sind ein Niemand, ein Prolet, den diese grässliche gesellschaftliche Gleichmacherei nach oben gespült hat.“ Mit fahrigen Bewegungen griff Cordula Wagner nach dem goldenen Feuerzeug, das auf dem Tisch stand, und zündete sich die Zigarette an. „Sie wissen nicht, was es heißt, wenn ein Name in den Schmutz gezerrt wird!“ Gierig saugte sie an der Zigarette, musste mehrmals husten, ließ sich jedoch nicht davon abhalten weiterzusprechen, wobei ihre Stimme jetzt einen schrillen Klang annahm. „Alle Zeitungen werden darüber berichten! Überall wird stehen, dass meine Tochter eine Hure war!“
„Wie kommen Sie darauf?“, unterbrach sie Braun. „Wieso glauben Sie, Ihre Tochter sei eine Prostituierte gewesen?“ Interessiert beugte sich Braun vor, fixierte Cordula Wagner, rückte näher an sie heran und sie versteifte sich zusehends. „Ich höre! Oder soll ich Sie mit auf das Präsidium nehmen, als wichtige Zeugin?“ Braun rückte noch ein Stückchen näher. „Das wird ein Fressen für die Journalisten“, zischte er und fächelte den Zigarettenrauch weg, den ihm Cordula Wagner immer hektischer ins Gesicht blies.
Als sie ihre kerzengerade Haltung aufgab und auf dem Sofa zusammensank, wusste Braun, dass er diese Runde gewonnen hatte.
„Sie hat mich angerufen. Vor ungefähr einem Jahr. Sie wollte, dass mein Mann wegen einer verschwundenen Freundin von ihr nachforscht. Ich habe das natürlich abgelehnt. Habe ihr gesagt, dass unser Name damit nicht in Verbindung gebracht werden darf. Unser Name muss doch rein bleiben.“
Sie rauchte ihre Zigarette bis zum Filter und zerdrückte die Glut mit den Fingerspitzen, ohne auch nur eine Miene zu verziehen. „Sie hat bloß gelacht. ,Euer Name ist schon im Dreck!‘, hat sie gesagt. ,Denn ich bin eine Nutte!‘“
Cordula Wagner richtete sich wieder auf, räusperte sich, fingerte eine weitere Zigarette aus dem Etui und zündete sie mit zitternden Fingern an. Ihre Stimme erklang wie von weit weg, wie aus einer anderen Welt, und vibrierte leicht.
„Das waren die letzten Worte, die ich von meiner Tochter gehört habe: ,Ich bin eine Nutte.‘“
Lange starrte Cordula Wagner auf die Zigarette in ihrer Hand, dann drückte sie die glühende Spitze fest in ihre Handfläche. Braun hinderte sie nicht daran. Als er das verbrannte Fleisch ihrer Hand roch, überkam ihn für einen kurzen Moment so etwas wie Mitleid für Cordula Wagner. Ihr Mann war nicht ansprechbar und würde nach Ansicht der Ärzte auch in einem komaähnlichen Zustand bleiben und ihre Tochter war grausam ermordet worden. Doch dann dachte er wieder an ihr eiskaltes Verhalten und den fast krankhaften Mangel an Mitgefühl. Angeekelt stand er auf und verließ grußlos die Wohnhalle. Alles, was er wusste, war, dass Cordula Wagner in einem Haus der Lügen und bereits in der Hölle lebte.
34. Vor dem Vergessen bewahren
Diesmal war die Zeit zwischen Mitternacht und Morgen für Kim Klinger am schlimmsten. Unruhig wälzte sie sich in ihrem Bett hin und her, dachte an die Diagnose des Neurologen, an ihre Porträts, die hinter der Tür an der Wand hingen, die niemanden interessierten und die nach ihrem Tod hier in der Wohnung vergessen würden.
„Ich muss die verschwundenen Mädchen vor dem Vergessen bewahren“, flüsterte sie leise, als sie im ersten Morgengrauen mit einer Tasse
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