Freunde müssen töten - Thriller (German Edition)
Kaffee am Fenster stand und die Tauben beobachtete, die in dem leer stehenden Gebäude gegenüber ein- und ausflogen. Vor dem Vergessen bewahren!, warum bekam sie diesen Satz nicht mehr aus dem Kopf? Ständig musste sie an Brauns Worte denken und vielleicht hatte ihr Leben ja doch einen Sinn, wenn es ihr gelang, das Geheimnis dieser verschwundenen Mädchen zu lüften. Es war wie draußen. Auch dort verschwanden Menschen, Autos und Straßen in dem dichten Nebel, der die Stadt einhüllte und zu Boden drückte. Noch immer stand sie am Fenster, trank Kaffee, rauchte und starrte ins Leere.
Bevor Kim ihre Wohnung verließ, ging sie nochmals ins Schlafzimmer, öffnete die hohen Flügeltüren, hinter denen nichts war als eine Mauer und ihre Selbstporträts, die an der unverputzten Ziegelwand hingen. Kim stellte sich mit dem Rücken zu diesen Bildern und schoss mit ihrem Handy ein Foto ihres Gesichts. Unbarmherzig nahe, ein Hyper-Close-up, damit auch jede Falte, jeder Schatten einer schlaflosen Nacht dokumentiert wurden. So nahe, wie sie nie wieder einen Menschen an sich heranlassen würde.
*
Vor dem Gebäude in der Linzer Innenstadt, in dem die Morgenpost ihre Redaktion hatte, klaute Kim eine Zeitung aus dem Ständer: „Tochter des Linzer Polizeipräsidenten ermordet!“ Die fette Schlagzeile nahm beinahe die Hälfte der Zeitung ein und als Kim die gefaltete Titelseite umdrehte, sah sie das Porträt eines jungen Mädchens mit blonden Haaren und einem Muttermal auf der linken Oberlippe. Das Mädchen starrte mit intensiven blauen Augen direkt in die Kamera und Kim musste sofort an ihre Informantin denken, die sie mit Augen wie diesen angestarrt hatte. Auch Lola hatte ein Muttermal auf der Oberlippe gehabt, zwar überschminkt, aber es war zweifellos ein Muttermal gewesen.
Mit der Zeitung in der Hand raste Kim die Stufen hinauf, durch den riesigen Redaktionsraum bis zu dem Glaskasten, in dem der Chefredakteur Bauer saß und, mit den Beinen auf dem Schreibtisch, gerade telefonierte. Ohne anzuklopfen stürzte Kim in sein Büro, knallte die Zeitung auf seinen Schreibtisch.
„Das ist meine Informantin! Ich bin mir ziemlich sicher.“
„Ich rufe zurück!“ Bauer wuchtete die Beine von seinem Schreibtisch und richtete sich auf. Lange betrachtete er das Foto von Brigitta Wagner, der Tochter des Polizeipräsidenten.
„Bist du dir sicher, Mädchen?“ Mit seiner verbundenen linken Hand fuhr er sich über den Mund und seine Augen flackerten. „Das ist der Hammer! Der absolute Hammer! Weißt du, was das bedeutet, Mädchen? Da hast du Dinge losgetreten, die etliche Nummern zu groß für dich sind!“
Er sprang auf und ging überlegend von einer Glaswand zur anderen. „Nun, dann wird also nichts aus deiner Geschichte, Kim!“
„Wieso? Ich verstehe dich nicht!“ Kim kniff die Augen ungläubig zusammen.
„Mädchen, denk doch einmal nach! Das könnt ihr Frauen doch so gut!“ Kim sah das spöttische Grinsen in Bauers Gesicht und wusste, dass er jetzt wieder seine alte Selbstsicherheit gefunden hatte, diese Überheblichkeit, die sie zuvor beinahe vermisst hatte. „Ohne Informantin gibt’s keine Informationen! Also auch keine Story. So einfach ist das! Und jetzt lass mich alleine, ich muss dringend telefonieren.“
Mit seiner verbundenen Hand scheuchte Bauer sie aus seinem Büro. Von ihrem Arbeitsplatz aus sah Kim, dass Bauer wieder die Beine auf seinen Schreibtisch gelegt hatte, in seinem Stuhl vor und zurückwippte und breit grinste, während er telefonierte.
„Kim Klinger?“
Ein durchtrainierter junger Mann in einem engen schwarzen Overall mit Zopf und Kinnbart stand plötzlich vor Kim. Auf dem Rücken trug er einen Rucksack, den er mit einer fließenden Handbewegung nach vorne schob und öffnete. Blitzschnell zog er einen Umschlag heraus, den er Kim entgegenhielt.
„Ist für Sie. Sie müssen noch hier unterschreiben.“ Er zog eine Liste aus seiner Brusttasche und reichte Kim einen Stift.
„Kein Absender?“, fragte Kim, nachdem sie das Kuvert von allen Seiten betrachtet hatte. „Woher stammt das Kuvert?“
Der Fahrradbote zuckte mit den Schultern.
„Lag in der Zentrale und war für meine Tour eingeteilt. Wir haben keine Ahnung, wer das abgegeben hat.“ Er tippte sich an die Schläfe. „Sorry, aber ich muss weiter. Falls Sie mich wieder mal brauchen.“ Er legte eine Visitenkarte auf Kims Schreibtisch und war auch schon wieder verschwunden.
Wie ein Fremdkörper lag das Kuvert auf Kims Schreibtisch und
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