Frevel im Beinhaus
Wehe erfasste sie mit Macht und ließ sie beinahe ohnmächtig werden. Sie schreckte hoch, als im nächsten Augenblick Griet neben ihr auf dem harten Steinboden landete. «Zählt Eure Atemzüge», sagte Emilianus und blickte mit einem irren Flackern in den Augen auf sie herab. «Es werden Eure letzten sein, Meisterin Burka. Ich hole jetzt meinen Gehilfen, und dann werden wir gemeinsam das Opfer darbringen.»
29
Adelina versuchte ruhig zu atmen, doch Angst und Schmerzen machten ihr das beinahe unmöglich. Griet neben ihr wimmerte und versuchte etwas zu sagen, hustete jedoch, weil der Knebel ihr wohl den Mund ausgetrocknet hatte. Adelina hätte sie gerne beruhigt, merkte aber, dass sie selbst zu panisch war. Griet schien das zu spüren, denn sie robbte näher zu ihr heran und drückte ihr Gesicht gegen Adelinas Schulter.
Es dauerte eine Weile, bis der Wehenschmerz ganz nachgelassen hatte, ihr Herzschlag beruhigte sich etwas, und sie konnte wieder denken. Emilianus hatte also Griet erwischt, bevor sie überhaupt bis zum Alter Markt gelangt war. Wo aber steckte Mira? Offenbar hatte er sie nicht gesehen, denn er hatte kein Wort über sie verloren. War sie also in Sicherheit? Hatte sie mitbekommen, dass Emilianus Griet gefangen genommen hatte? Konnte sie sich vor ihm verstecken? Würde sie jemanden finden, der das Schloss öffnen konnte? Aber was würde geschehen, wenn Emilianus mit Michel zurückkehrte? Zusammen mit seinem Handlanger wäre er durchaus fähig, auch zwei Menschen zu überwältigen. Das Schlimmste daran war, dass Greverode nicht alarmiert worden war. Niemand würde ihnen zu Hilfe kommen. Selbst wenn ihr Bruder mit Jupp und vielleicht Wolfram Stache dem unterirdischen Gang bis zur Judengasse folgte, würde er von dort aus nicht weiterwissen. Adelina glaubte nicht, dass es ihm in den Sinn kommen würde, bei der Ulrepforte zu suchen. Und selbst wenn er es tat, würde auch das gar nichts bringen. Kein Mensch würde je darauf kommen, dass sie sichin einem römischen Mausoleum an der Severinstraße befand.
***
Die Zeit verstrich quälend langsam. Adelina spürte, dass Grit neben ihr langsam ebenfalls in Panik geriet und verzweifelt versuchte, sich von ihren Fesseln zu befreien.
Inzwischen bekam Adelina kaum noch Luft durch den Knebel. Das Schlucken fiel ihr bereits schwer, ihre Kehle war ganz rau. Fast war sie so weit, sich in ihre Angst derart hineinzusteigern, dass ihr wahrscheinlich die Sinne schwinden würden. Doch sie riss sich zusammen. Niemandem wäre damit gedient, wenn sie jetzt womöglich einen hysterischen Anfall bekäme. Sie musste versuchen, klar zu denken und zu überlegen, wie sie und Griet heil aus dieser Sache herauskommen konnten. Dabei machte sie sich die schlimmsten Vorwürfe, dass sie die Mädchen, wenn auch unwissentlich, in derartige Gefahr gebracht hatte. Sie schalt sich selbst eine Närrin, weil sie kopflos und ohne an die möglichen Folgen zu denken, allein auf Mörderjagd gegangen war. Der Erfolg, den sie errungen hatte, indem sie Emilianus als den wahren Täter erkannt hatte, war ja nun mehr als zweifelhaft. Sobald er zurückkehrte, würde er sie umbringen.
Adelina richtete sich ein wenig auf. Würde er tatsächlich ein solches Risiko eingehen? Immerhin war es inzwischen heller Morgen, und so weit war die Severinstraße nicht entfernt, dass nicht die Gefahr bestand, jemand könne ihn bei seinem Tun entdecken. Solange sie und geknebelt waren, würden weder Griet noch sie selbst sich wehren oder um Hilfe rufen können. Hier drohte ihm also wenig Gefahr. Doch wenn jemand zufällig vorbeikam, ein Bauer vielleicht, und ihn entdeckte … Oder hatte er ihnen nur Angst machenwollen und in Wirklichkeit beschlossen, sie einfach hier zurückzulassen? Er musste doch selbst merken, dass ein Ritualmord mitten am Tag viel zu riskant war. Also würde er, wenn er vernünftig war, entweder bis zur Nacht warten oder ganz von seinem Plan ablassen und sich möglicherweise ein anderes Opfer suchen.
Viel Zeit blieb ihm freilich nicht. Adelina erinnerte sich, dass in Kürze der Gerichtstag in Lahnstein angesetzt war, an dem über das Schicksal des alten und die Zukunft des neuen Königs entschieden werden sollte. Wenn Emilianus wirklich mit allen Mitteln – auch der Teufelsbeschwörung – gegen das Vorhaben der Kurfürsten vorgehen wollte, blieb ihm nicht mehr viel Zeit. Adelina hatte etwas in seinen Augen aufblitzen sehen, das sie nur als Wahnsinn interpretieren konnte. Ihre Befürchtung bestätigte
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