Frevel im Beinhaus
sich danach niemand weiter darum gekümmert, ob Ihr dort oben auch die ganze Nacht geblieben seid. Das ist unser Problem. Ihr hättet ohne nennenswerte Schwierigkeiten für eine Weile fortgehen können, und der Vogt geht davon aus, dass Ihr genau das getan habt. Das Kellergelass, in dem der Schädel und die Leiche gefunden wurden, befindet sich etwas seitlich der Ulrepforte, ist jedoch den wenigsten bekannt oder gar zugänglich. Es gehört zu dem Netz aus unterirdischen Kellergewölben und Gängen, das, wie Ihr vielleicht wisst, schon seit römischen Zeiten unter unserer Stadt besteht. Man sagt, es handele sich dabei um eine alte Wasserleitung sowie die Überreste von heidnischen Tempeln und kaiserlichen Palästen.»
«Ich habe die Wachstube aber nicht verlassen», erwiderte Neklas ruhig. «Mag sein, ich bin ein- oder zweimal kurz eingenickt, doch das ist das Einzige, was man mir vielleicht zur Last legen kann.»
«Damit kommen wir leider kein Stück weiter», brummte Reese. «Tatsache ist nun mal, dass alle Hinweise darauf hindeuten, dass Ihr etwas mit dem toten Säugling zu tun habt.»
«Aber warum überhaupt», mischte Adelina sich ein. «Nur, weil unsere Schuhe ebenfalls dort gefunden wurden? Die kann der wahre Täter ja mit voller Absicht an dieser Stelle liegen gelassen haben. Und dann dieser Schädel – glaubt Ihr im Ernst, Neklas habe auch das Beinhaus in der Rheingasse ausgeraubt? Wozu denn in aller Welt? Was haben alte Knochen mit einer schwangeren Frau zu tun, der man das Kindlein aus dem Leib geschnitten hat?» Erregt und zugleich in einer beschützenden Geste legte Adelina eine Hand auf ihren Bauch.
«Ich verstehe Eure Aufregung, Frau Adelina.» Reese ging langsam im Raum auf und ab. «So wie Ihr sehe ich es auch. Leider wurde aber die Tote in Eurer Abortgrube gefunden, zusammen mit der Messerscheide des Herrn Magisters, und dummerweise sprechen einige Ereignisse aus seiner Vergangenheit gegen ihn. Glaubt mir, es tut mir wirklich leid, das sagen zu müssen, aber Euer Gemahl ist der einzige Mann in Köln, der nachvollziehbare Motive für die Tat hat.»
«So, habe ich das?», warf Neklas ein. «Welche Motive wären das bitte?»
Reese blieb vor ihm stehen. «Euer medizinischer Forscherdrang galt dem Vogt zunächst als der einleuchtendste Grund.»
Neklas fuhr auf. «Ich bin Arzt!»
«Eben.» Reese nickte. «Der Vogt legt dieser Tat einen irregeleiteten Eifer in dem Bemühen zugrunde, das menschliche Innere zu erforschen. Seit dem Fund des Schädels ist jedoch ein weiterer Verdacht hinzugekommen, der mir weit ärgere Sorgen bereitet.»
«Und zwar?»
Unbehaglich strich sich Reese übers Kinn und nahm seine Wanderung durch die Kammer wieder auf. «Es ist bekannt geworden, dass Ihr Euch nicht nur in der Medizin,sondern auch in der Alchemie auskennt und es darin zu einigem Ansehen gebracht habt.»
«Herr Reese!» Adelina starrte den Gewaltrichter entsetzt an. «Ihr habt dem Vogt erzählt, was ich Euch gesagt habe?»
Neklas’ Kopf wandte sich zu Adelina. «Was hast du ihm gesagt?»
Adelina biss sich auf die Lippen. «Ich habe ihm von der Sache mit dem Goldmachen …»
«Adelina!»
«Einen Augenblick», unterbrach Reese die beiden. «Von mir hat der Vogt nichts über diese …» Er zögerte kurz. «… Angelegenheit zwischen Euch und diesem italienischen Bischof erfahren. Soweit ich weiß, hat Bruder Thomasius einiges zu diesem Thema beisteuern können.»
«Er schon wieder», knurrte Neklas. «Das hätte ich mir ja denken können.»
«Wie dem auch sei», fuhr Reese unbeirrt fort. «Dieser Dominikaner scheint sich in der Alchemie recht gut auszukennen. Er vermutet, dass Ihr womöglich auf der Suche nach einer Art Allheilmittel für alle Krankheiten seid. Man nennt es …»
«Panacea», sagte Neklas. «Das ist interessant.»
«Panacea?», fragte Adelina verständnislos. «Ist das so etwas wie Theriak, das von den fahrenden Händlern immer wieder angeboten wird? Mein Vater hielt nicht viel davon, deshalb haben wir nie welches in unserer Apotheke verkauft. Die Herstellung ist sehr aufwendig. Soweit ich weiß, hat Meister Winkler als einer der wenigen Apotheker in Köln die Befugnis vom Stadtrat, es herzustellen – und das nur unter Aufsicht.» Sie schnaubte abfällig. «Er verkauft es wohl recht häufig – ich habe allerdings noch nie gehört, dass dieses Mittel wirklich jemandem geholfen hätte, es sei denn, seinen Geldbeutel zu erleichtern.»
«Nein, Adelina.» Neklas schüttelte den Kopf.
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