Frevel im Beinhaus
überreden, dich wenigstens bis zum Ende deiner Lehrzeit bei mir zu lassen.» Sie runzelte die Stirn, als ihr einfiel, dass gar nicht sicher war, wie es mit ihr und der Apotheke weitergehen würde, wenn sie es nicht schafften, Neklas’ Unschuld zu beweisen. Dennoch fuhr sie fort: «Bis dahin sind es zwei, vielleicht auch drei Jahre, Mira. Lange genug, damit du dir überlegen kannst, ob du den Mann, den dein Vater für dich ausgesucht hat, vielleicht doch heiraten willst.» Ehe Mira aufbegehren konnte, hob Adelina beschwichtigend die Hand. «Und lange genug, damit dieser Mann vielleicht das Interesse verliert.»
Miras Miene hellte sich ein wenig auf. «Meint Ihr?»
Adelina lächelte leicht. «Wie ich es sehe, gibt es zwei Möglichkeiten. Drei, wenn man diejenige hinzunimmt, dass du dich gleich zu einer Heirat entschließen könntest.»
«Nein, auf keinen Fall!»
«Also gut, dann wäre die eine Möglichkeit, dass dieserMann sehr rasch die Verbindung eingehen will und – gesetzt den Fall, dein Vater willigt ein, dich deine Lehre beenden zu lassen – darauf verzichtet, weil ihm die Wartezeit zu lang ist.»
«Das wäre gut.»
«Die andere Möglichkeit ist, dass er die lange Wartezeit akzeptiert, weil er dich unbedingt zur Frau haben will und deinen Wunsch, die Lehrzeit bei mir abzuschließen, akzeptiert. Sollte dies der Fall sein, würde ich mir an deiner Stelle überlegen, ob er nicht doch als Ehemann in Frage kommt, denn dann dürfte er tatsächlich etwas für dich übrighaben.»
«Nein, ganz bestimmt nicht.» Mira schüttelte heftig den Kopf. «Ich soll doch nur verschachert werden wie ein Stück Vieh. Weder meinen Vater noch den Mann, den er ausgesucht hat, interessiert es, was ich will.»
«Bist du sicher?»
«Ganz sicher. Seht doch, wie Vater mich herausgeputzt hat. Lauter neue Kleider und Schmuck und all das. Das ist doch nur, damit ich meinem Bräutigam gefalle, wenn er mich sieht.»
«Wenn er dich sieht», echote Adelina mit fragendem Blick. «Wer ist denn überhaupt der Mann, den du heiraten sollst? Kennst du ihn?»
Mira zog die Schultern hoch. «Ja. Nein.» Sie presste kurz die Lippen zusammen. «Ich weiß, wer er ist, deshalb will ich ihn auch nicht. Er ist … ein Scheusal. Gemein und niederträchtig wie mein Stiefvater. Und alt. Ich will ihn auf gar keinen Fall heiraten. Aber Stiefvater wird mich dazu zwingen.» Jetzt kullerte doch eine Träne über Miras Wange, die sie rasch mit dem Handrücken fortwischte.
«Bitte beruhige dich.» Sanft nahm Adelina Miras Hand. «Ich verspreche dir, so bald wie möglich mit deinem Stiefvater zu sprechen.»
«Glaubt Ihr denn, er hört auf Euch?»
Adelina lächelte. «Das können wir nicht wissen, ehe ich es nicht versucht habe. Aber bis dahin wünsche ich, dass du dich an deine Erziehung erinnerst und dich niemandem gegenüber noch einmal so ungezogen verhältst. Hast du mich verstanden?»
«Ja, Meisterin.» Mira senkte wieder den Kopf.
«Auch nicht Hauptmann Greverode gegenüber», betonte Adelina scharf. «Obwohl er es weiß Gott manchmal nicht besser verdient hat.»
Überrascht hob Mira den Kopf, und Adelina deutete ein Lächeln an. «Und nun geh hinunter in die Apotheke. Die Kräuter, die zum Trocknen im Hinterzimmer hängen, müssen verarbeitet werden.» Sie schwang die Beine über den Bettrand. «Am besten komme ich mit. Dann kann ich gleich ein paar Salben herstellen.»
Mira nickte und ging gehorsam zur Tür. «Meisterin?»
«Ja, Mira?»
«Kommt Magister Burka wieder frei?»
Adelinas Miene wurde ernst. «Ich hoffe es, Mira. Wir tun alles dafür.»
***
Die Sonne stand bereits tief, als Adelina die Schlafkammer ihres Sohnes betrat. Durch das Fenster war sie wie ein roter Feuerball zu sehen, der knapp über den Dächern der Stadt hing und den wolkenlosen Himmel in ein Meer von Rot, Rosa und Violett tauchte. Colin schlief bereits. Still setzte sich Adelina neben ihn auf die Bettkante und betrachtete sein engelhaftes Gesicht, dessen Züge so sehr denen von Neklas ähnelten. Sanft berührte sie seine wirren schwarzen Löckchen und spürte dabei dem leise ziehenden Schmerz nach, der ihr Herz durchzog. Noch niemals in ihrem Lebenhatte sie sich derart hilflos gefühlt. Sie kam sich wie gefangen vor, nicht nur, weil sie in ihrem eigenen Haus eingesperrt war, sondern auch, weil sie einfach nicht wusste, wie es weitergehen sollte. Jupp hatte am Nachmittag die Schöffen aufgesucht, jedoch keine befriedigende Auskunft über den bevorstehenden Prozess
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