Frevel im Beinhaus
ja sich noch nicht einmal erkundigt, wie es mir geht.» Nun klang deutlich Bitterkeit aus seiner Stimme. «Ein Jahr später ehelichte sie Albert Merten und brachte kurz darauf Euch zur Welt – und einige Jahre später Vitus», schloss er dumpf. Er blickte ihr in die Augen. «Wie sollte ich dich nicht dafür hassen wollen, dass sie dich geliebt hat und mich nicht? Sogar um Vitus hätte sie sich wohl mehr gekümmert als um mich, wenn sie nicht bei seiner Geburt gestorben wäre.» Er stützte die Ellbogen auf seinen Knien ab und legte den Kopf in seine Hände. «Ich wollte dich hassen – mehr als alles andere.» Er stockte und hob langsam den Kopf. Gequält blickte er sie an. «Aber es geht nicht», sagte er leise. «Denn du bist meine Schwester.»
20
«Der Hauptmann ist also dein leiblicher Bruder», stellte Ludmilla mit einem breiten Grinsen fest, als Adelina nach einer schlaflosen Nacht sehr früh am nächsten Morgen die Küche betrat. «Fast hätt ich’s mir ja denken können. Die Sturheit müsst ihr beide eindeutig von eurer Mutter geerbt haben. Wenn man es weiß, sieht man sogar eine gewisse Ähnlichkeit. Mehr noch übrigens zwischen ihm und Vitus.»
Adelina starrte die alte Hebamme an. «Woher weißt du …?»
Ludmilla stieß ihr krächzendes Lachen aus. «Ach, Liebchen, ich bin vielleicht alt, aber nicht taub. Und deine Gästekammer liegt zum Hof hinaus.» Sie wurde wieder ernst. «Ich denke aber, ihr werdet gut daran tun, vorerst Stillschweigen über eure verwandtschaftliche Beziehung zu halten. Sonst könnten die Schöffen auf die Idee kommen, Greverode sei befangen, und ihn von seinem Posten hier abziehen.»
«Daran habe ich auch schon gedacht», gab Adelina zu. «Am besten rede ich gleich mit ihm darüber. Wo steckt er?»
«Draußen am Brunnen. Warte lieber noch ein Weilchen, denn als ich ihn vorhin sah, stand er nackt, wie Gott ihn schuf, im Garten und hat sich gewaschen. Scheint ein reinlicher Mensch zu sein. Das findet man selten bei Männern seines Schlages. Wobei ich durchaus zugeben muss, dass er eine Augenweide ist.»
«Ludmilla!», rief Adelina empört.
«Schon gut.» Sie wischte sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel. «Aber du solltest dafür sorgen, dass er sich entweder woanders wäscht oder, dass dein Lehrmädchennachts die Fensterläden schließt. Ich fürchte nämlich, dass ihr der Anblick nicht entgangen sein dürfte.»
Adelina verdrehte die Augen. «Auch das noch!»
«Halb so wild», befand Ludmilla. «Der Kleinen wird es schon nicht schaden, sollte sie ihn tatsächlich gesehen haben.»
«Aber es ist unschicklich!»
«Ach was! Dann weiß sie wenigstens, was sie erwartet, wenn sie einmal heiratet.»
«Das weißt du auch schon?» Argwöhnisch runzelte Adelina die Stirn. «Hast du uns etwa belauscht?»
«Was weiß ich?» Diesmal wirkte Ludmilla überrascht.
«Dass Miras Vater sie verheiraten will.»
«Nein, das wusste ich nicht», antwortete die Alte. «Du sagst das so, als gefalle dir der Gedanke nicht besonders.»
«Tut es auch nicht», gab Adelina zu. «Mira sagt, sie will nicht heiraten. Ich fürchte, ihr Vater wird sie trotzdem dazu zwingen.»
«Sein gutes Recht.»
«Ich weiß. Aber Mira …» Adelina schüttelte den Kopf. «Es täte mir leid, wenn sie unglücklich würde. Sie ist so gern bei mir.»
«Was man anfangs ja niemals vermutet hätte.» Ludmilla lächelte. «Weißt du, wen sie heiraten soll?»
«Nein, sie hat mir den Namen des Mannes nicht genannt. Ihrer Beschreibung nach muss es sich um einen schrecklichen Menschen handeln, der viel älter ist als sie.»
Ludmilla schnalzte. «Wenn sie nicht heiraten will, mag ein jeder Mann schrecklich sein, insbesondere in der Phantasie eines so jungen Mädchens.»
Adelina nickte. «Das denke ich auch. Andererseits hat sie ihn als so gemein und niederträchtig wie ihren Stiefvater bezeichnet. Ich glaube nicht, dass sie sich das nur ausgedacht hat.»
«Wenn er schon älter ist, handelt es sich vermutlich um irgendeinen Freund ihres Vaters», vermutete Ludmilla. «Klingt nach einem Witwer, der darauf hofft, dass ihm eine junge Frau das Bett noch einmal wärmt und ein paar Söhne schenkt.» Achselzuckend wechselte sie das Thema: «Ich höre Schritte. Jetzt kannst du gleich mit deinem Bruder besprechen, wie es weitergehen soll.»
***
Adelina und Greverode waren rasch übereingekommen, vorerst über ihre Verwandtschaft Stillschweigen zu bewahren. Sie hatte ihn am Vorabend wortlos verlassen. Zu aufwühlend waren die
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