Frevel im Beinhaus
aufwachsen können? Aber immerhin hat er es schon weit gebracht. Er ist Hauptmann der Stadtsoldaten. Das wird man nicht, wenn man dumm ist oder faul oder unehrlich.»
«Das weiß ich auch. Trotzdem fällt es mir schwer, ihm zu trauen.»
«Das verstehe ich, Mira. Ich weiß selbst nicht, was ich von der ganzen Angelegenheit halten soll. Tatsache ist aber, dass er uns helfen will – und Hilfe benötigen wir derzeit sehr.»
«Ich weiß.»
«Wie es später mit uns weitergehen wird, kann auch ich dir nicht sagen, Mira. Auch wenn er mein Bruder ist, bedeutet das noch lange nicht, dass wir jemals eine Familie werden.»
«Ihr glaubt aber, dass er es jetzt gut mit Euch meint.»
«Das glaube ich, Mira. Warum beschäftigt dich das so?»
Mira zuckte mit den Schultern. «Wenn ich das alles früher gewusst hätte, hätte ich mich wohl nicht getraut, so unverschämt zu ihm zu sein.»
«Nicht?» Adelinas Lippen zuckten, dann lächelte sie erneut. «Also, ich weiß nicht. Was dein freches Mundwerk angeht, könntest du wohl beinahe auch meine Schwester sein – oder meine Tochter.»
Mira starrte sie verblüfft an.
Adelina lachte. «Das soll aber nicht bedeuten, dass du wieder so vorlaut sein darfst. Weder zu meinem Bruder noch zu sonst irgendjemandem.» Sie hielt inne. «Schon gar nicht zu meinem Bruder. Ich fürchte, er hält dies hier sowieso schon für ein Narrenhaus. So ganz unrecht hat er damit nicht, fürchte ich.»
25
Das von Ludmilla angekündigte Gewitter entlud sich am frühen Abend, kaum dass die Familie das Abendessen beendet hatte. Adelina schickte Vitus und die Mädchen in ihre Kammern und brachte Colin selbst zu Bett, während Ludowig und die beiden Mägde überall im Haus nachsahen, ob die Fensterläden fest verschlossen waren. Die alte Ludmilla hatte sich bereits am Nachmittag verabschiedet, da sie unbedingt hinaus zu ihrer Hütte gehen wollte, um dort nach dem Rechten zu sehen. Bei dieser Gelegenheit wollte sie sich auch noch einmal in den Gassen und vor den Stadttoren umhören, ob es weitere Neuigkeiten gab.
Als Adelina in die Küche zurückkehrte, fand sie dort nur Fine und Moses vor, die sich die Reste des Essens teilten, die Magda ihnen in eine Holzschale gefüllt hatte. Müde ließ sich Adelina auf die Ofenbank sinken und lauschte dem Heulen des Windes, der sich immer wieder pfeifend im Rauchabzug verfing, und dem sich langsam nähernden Donnergrollen. Sie hatte eine Öllampe entzündet, denn obgleich es noch nicht spät war, hatten die düsteren Unwetterwolken den Himmel bereits verdunkelt.
Greverode war noch nicht zurückgekehrt. Vielleicht wartete er das Unwetter in einer Taverne ab oder war heimgekehrt. Adelina wurde sich bewusst, dass sie gar nicht wusste, wo er wohnte.
Sie streichelte sanft ihren Bauch, in dem das Kindchen wieder einmal fröhlich strampelte. Ihrer Gefühle Greverode gegenüber war sie sich längst nicht sicher, aber wenn er schon so nah mit ihr verwandt war, schien es ihr vernünftig,ihn näher kennenzulernen. Sie ließ die letzten Tage vor ihrem inneren Auge vorüberziehen und erinnerte sich an jeden Streit, den sie miteinander gehabt hatten, aber auch daran, wie er draußen im Garten erschienen war und Colin hinauf in den Baum gehoben hatte. Immer mehr Einzelheiten kamen ihr in den Sinn, und nach einer Weile wurde ihr bewusst, dass ihr Bruder offenbar ein ganz anderer Mensch war, als sie gedacht hatte – ja, als er selbst ständig vorgab. Er war ein harter Mann, aber nicht hartherzig. Er vermochte sich durchzusetzen – sogar mit Brutalität, das hatte sie ja selbst erlebt –, doch er schien seine Macht nicht unrecht auszunutzen. Zumindest war ihr nie dergleichen zu Ohren gekommen. Jähzornig war er ebenfalls – und stur. Sie schmunzelte. Wenn sie ehrlich war, musste sie natürlich zugeben, dass sie selbst ihm darin in nichts nachstand. Auch Neklas hatte sie weiß Gott schon oft genug stur und eigensinnig geschimpft.
Nachdenklich blickte Adelina zur Decke und beobachtete eine kleine Spinne. Ihr Bruder war also bei weitem nicht der ungehobelte Grobian, für den sie ihn lange Zeit gehalten hatte. Zumindest verfügte er über einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und – auch wenn er es sehr gut zu verbergen wusste – über ein Herz und Gefühle, die es ihm trotz aller Vorbehalte schließlich verboten hatten, seine eigene Schwester im Stich zu lassen.
Ein greller Blitz tauchte die Küche für einen kurzen Moment in gleißendes Licht. Zwei Atemzüge später ertönte ein
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