Frevel: Roman (German Edition)
Südwestlondon
1. Oktober im Jahr des Herrn 1583
Draußen auf dem Fluss nutze ich ein paar Minuten der Ruhe, um zum ersten Mal seit Tagen, wie es mir vorkommt, meine wirren Gedanken zu ordnen. Wegen der Regenwolken hat die Dämmerung verfrüht eingesetzt, und ich sitze in meinen Umhang gehüllt im Nieselregen im Bug des kleinen Bootes, lasse mich vom Rhythmus der Ruder einlullen und blicke zu den Lichtern hinter den Fenstern der am Ufer gelegenen Gebäude hinüber. Ich hatte das Glück, an einen der wenigen Bootsmänner zu geraten, die sich nicht bemüßigt fühlen, ihre Fahrgäste unterhalten zu wollen. Seine Laterne schwingt an ihrem Haken hin und her, während er gegen die Strömung anrudert, und in der Stille kehren meine Gedanken zu Maries Benehmen an diesem Morgen zurück. Dadurch, dass ich sie – in bester Absicht – zurückgewiesen habe, habe ich mich ihr auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, falls sie beschließen sollte, mir Schwierigkeiten zu machen. Unter Umständen wäre es besser gewesen, sie ein wenig zu ermutigen, ihr einen kleinen Teil von dem zu geben, was sie will. In jenem Moment der Nähe, als sie sich vorgebeugt hat, um mich zu küssen, hat sich mein Körper daran erinnert, wie es ist, berührt zu werden. Es ist schon ein paar Monate her, seit ich zum letzten Mal eine Frau geküsst habe, und diese Angelegenheit hatte ja kein gutes Ende genommen. Was ich zu Marie gesagt habe, entspricht der Wahrheit – die Jahre im Dominikanerorden haben mich zumindest gelehrt, körperliches Verlangen zu unterdrücken, indes kann kein noch so großes Maß an Selbstdisziplin die Einsamkeit aus dem Herzen vertreiben. Das Leben, das ich gewählt habe – oder das mir aufgezwungen worden ist, ich kann nie genau sagen, was nun eigentlich zutrifft –, lässt kaum eine Art von Intimität zu. Ein Autor meines Schlages, besonders einer, der im Exil lebt, muss lernen, sich zurückzuhalten und sich in sich selbst zurückzuziehen, und meistens gelingt mir das auch. Dennoch verspüre ich ständig, irgendwo in meinem Inneren, den dumpfen Schmerz unerfüllten Verlangens, von dem ich manchmal fürchte, dass er mein lebenslanger Begleiter werden wird. Zählte ich zu einem anderen Schlag Mann, hätte ich bezüglich Marie vielleicht keine Bedenken gehabt; jemand wie Douglas würde sich vermutlich nicht zweimal bitten lassen, wenn sich ihm eine Frau anböte. Aber abgesehen von der Loy alität, die ich Castelnau schulde, spüre ich in Marie eine Kälte, die mich trotz ihrer Attraktivität abstößt. Unweigerlich beginnen meine Gedanken erneut um Sophia Underhill zu kreisen, die letzte Frau, die ich in den Armen gehalten habe – die Frau, deren Geist und Schönheit erst vor wenigen Monaten meinen Schutzpanzer durchbrochen haben. Ich frage mich, wo sie jetzt ist und ob sie ein wenig Glück gefunden hat.
Für gewöhnlich kann ich meine Gedanken zügeln, wenn sie diese Richtung einschlagen, indem ich mich mit meinem Gedächtnisrad beschäftige. An diesem Abend jedoch verschmelzen alle Bilder zu einem von Maries Lippen, was als Mittel zur Ablenkung nicht gerade wirksam ist.
Als Resultat dieser Grübeleien treffe ich in einer ziemlich niedergeschlagenen Stimmung in Mortlake ein. Mittlerweile ist die Abenddämmerung angebrochen, die Konturen der Gebäude und Bäume am Ufer verschwimmen im Regen mit dem grauen Himmel. Ich fröstele und komme mir plötzlich weit weg von daheim vor. Nimm dich zusammen, mahne ich mich streng. Mein einziges Ziel besteht jetzt darin, einen Mörder zu finden, und Selbstmitleid ist etwas für Schwächlinge.
Zuerst rührt sich in Dees Haus nichts. Ich stehe ein paar Minuten im immer stärker werdenden Regen vor der Tür, während kalte Furcht in mir aufsteigt. Es ist nicht auszuschließen, dass alle Bewohner des Hauses zum Verhör abgeholt worden sind oder dass Ned Kelley zurückgekehrt ist und die Tür verbarrikadiert. Ich schütze die Augen mit einer Hand vor den Regentropfen und versuche, durch eines der kleinen Fenster neben der Tür zu spähen, kann aber kein Licht erkennen. Gerade als ich erwäge, nach einem größeren Fenster Ausschau zu halten, das ich einschlagen kann, um hindurchzuklettern, ertönt ein Knarren, die Tür wird einen Spaltbreit geöffnet, und eine Kerze flackert darin auf.
»Mistress Dee, ich bin es, Giordano Bruno. Ich bin gekommen, um mich zu erkundigen, ob es Neuigkeiten vom Hof gibt.« Erleichtert kehre ich zur Tür zurück. Aus dem Dunkel im Inneren starrt mich das finstere
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