Frevel: Roman (German Edition)
natürlich nicht seine Vision«, versetzt sie mit unverkennbarer Bitterkeit.
»Nein, sie stammt von seinem Wahrsager Ned Kelley.«
»Der sich die letzten vier Tage nicht hat blicken lassen«, schließt sie. »Aber das würde mein Mann der Königin natürlich nie gestehen, er legt ja größten Wert darauf, dass sie an seine angebliche wundersame Gabe glaubt. Armer John.« Sie lächelt traurig. »Er hat diese Gabe nicht und wird sie auch nie haben. Man bezieht sie nicht aus Büchern, und wenn man noch so lange darüber brütet und Unsummen für ihre Anschaffung ausgibt. Meine eigene Großmutter war hellsichtig, ich kenne mich auf diesem Gebiet demnach ein wenig aus. Sie konnte mit Sieb und Schere weissagen und Träume deuten. Wenn Ihr mich fragt, verfügt allerdings auch Ned Kelley über keine derartige Gabe. Kelley mag manches sein – und ich schließe beileibe nicht aus, dass er auch einen Mord begangen haben könnte –, aber er kann weder in die Zukunft blicken noch mit Geistern sprechen.« Sie nickt nachdrücklich und verlagert das Baby auf ihre andere Hüfte.
»In diesem Punkt sind wir einer Meinung«, bestätige ich. »Freilich würde ich zu gerne wissen, wie Ned Kelley gerade auf diese Vision kommt, die Einzelheiten können nämlich kein Zufall sein. Wenn nicht alle Zeichen trügen, verdient dieser Scharlatan es nicht, dass Euer Mann ihn immer wieder in Schutz nimmt. Wenn John etwas weiß, wird er es den Beratern der Königin nicht verraten, und es steht zu befürchten, dass er sich dadurch nur selbst schadet.«
Jane holt tief Atem und blickt auf den Jungen hinab, der ein Stück näher an meine Füße herangerückt ist.
»Ein wahreres Wort ward nie gesprochen, Doktor Bruno. Dieses Thema war während der letzten Monate ein ständiger Anlass für Auseinandersetzungen zwischen uns. Gott allein weiß, wie es diesem Mann gelungen ist, John dermaßen einzuwickeln, ich kann es mir nicht erklären. Schläft unter unserem Dach, isst uns unser Brot weg, während meine Kleinen …« Sie bricht ab, als sie merkt, wie schrill ihre Stimme geworden ist. Ihre Wangen glühen. Der kleine Arthur hebt neugierig den Kopf.
»Wer isst uns unser Brot weg, Mama?«
»Sei still, mein Herz.« Jane bedeutet mir, ebenfalls zu schweigen. Eine Weile rührt sich keiner von uns von der Stelle, wir spitzen stumm die Ohren, dann schleicht Jane auf Zehenspitzen durch den Raum und reißt die Tür auf. Hastiges Fußgetrappel ertönt, das im Gang verklingt. Jane nickt in Richtung des Geräuschs und wirft mir einen viel sagenden Blick zu, als wolle sie sagen: Seht Ihr, was ich alles mitmachen muss?
»Ihr sagtet eben, hier hätte ein reges Kommen und Gehen geherrscht«, frage ich nach, als sie die Tür wieder schließt. »Was habt Ihr damit gemeint?«
»Johns Bibliothek. Ihr wisst, dass er alle Besucher willkommen heißt? Er meint, seine Sammlung müsse jedem zur Verfügung stehen, der sie mit Verständnis zu lesen und mit Sorgfalt zu behandeln weiß. Das gilt natürlich nicht für seine Abhandlungen über Magie«, fügt sie etwas leiser hinzu. »Nun, just an diesem Morgen stand noch vor neun Uhr ein Mann vor der Tür und behauptete, einen sehr langen Weg zurückgelegt zu haben, um einen Blick in ein spezielles Manuskript zu werfen, und er könne eine schriftliche Erlaubnis von meinem Ehemann dazu vorlegen.« Das Baby greint erneut, lässt sich diesmal jedoch nicht durch einen hingehaltenen Finger beschwichtigen und wendet das Gesicht ab. Seine Wangen lodern zornrot. »Es gefiel mir nicht, einen Fremden ins Haus zu lassen, weil ich mit den Kindern allein war, aber ich wollte den Mann auch nicht wegschicken – John hat das noch nie getan, obwohl Ihr Euch vielleicht vorstellen könnt, was für ein zwielichtiges Gesindel manchmal hier auftaucht.«
Ich denke an Kelley und nicke. »Also habt Ihr ihn hereingelassen?«
»Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte.« Sie blickt gequält auf.
»Hat er Euch diese schriftliche Erlaubnis Eures Mannes gezeigt?«
»Er hat mir tatsächlich einige Papiere gezeigt – Ihr müsst wissen, dass ich nicht sehr gut lesen kann, Doktor Bruno, doch ich kenne die Unterschrift meines Mannes. Also ließ ich ihn in die äußere Bibliothek, sagte ihm aber, ich wüsste nicht, wo das betreffende Buch zu finden sei, er müsse selbst nachsehen. Euch ist ja bekannt, dass John seine Bücher nach einem System ordnet, das außer ihm keiner durchschaut.«
»Hat dieser Mann Euch den Titel des Buches genannt?«
Sie runzelt
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