Frevelopfer
positiv und bereit, für andere da zu sein. Sie war in jeder Hinsicht ein sehr liebes Mädchen, und sie hatte auch diese Unschuld, die allen guten Menschen innewohnt. Sie war immer nett zu den Menschen und die anderen auch zu ihr. So war das einfach. Sie vertraute den Menschen, sie glaubte nicht, dass jemand bösartig sein konnte, mit so etwas war sie ja auch nie in Berührung gekommen. Sie hat nur gute Menschen gekannt.«
»Es wird heutzutage viel über Mobbing an Schulen gesprochen, und man versucht, etwas dagegen zu unternehmen«, warf Elínborg ein.
»Das war bei ihr nie der Fall«, erklärte Hallgerður.
»Und ihr gefiel es gut in der Schule?«
»Ja. Lilja kam überall gut mit. Mathematik war ihr Lieblingsfach, und sie sprach davon, dass sie später Naturwissenschaften studieren wollte, Physik oder Mathematik. Sie wollte ins Ausland, nach Amerika, weil ihrer Meinung nach dort die besten Universitäten sind.«
»War der Unterricht in diesen Fächern an ihrer Schule gut?«
»Ich glaube schon. Ich habe sie nie klagen hören.«
»Hat sie mit euch über den Unterricht oder über die Lehrer gesprochen?«
»Nein.«
»Hat sie jemals einen Lehrer namens Eðvarð erwähnt?«
»Eðvarð?«
»Er unterrichtete Naturwissenschaften«, sagte Elínborg.
»Weshalb fragst du nach ihm?«
»Ich …«
»Hat er meine Tochter gekannt?«
»Er hat sie in dem Winter, bevor sie verschwand, unterrichtet. Ich kenne ihn, und deswegen weiß ich, dass er um die Zeit hier unterrichtet hat.«
»Sie hat nie über einen Eðvarð gesprochen. Wohnt er hier am Ort? Ich kann mich nicht erinnern, dass jemals die Rede von ihm war oder von anderen Lehrern.«
»Nein, natürlich nicht. Ich habe nur gefragt, weil ich ihn kenne. Eðvarð lebt in Reykjavík, und er ist damals jeden Tag gependelt. Er war ziemlich jung, als er hier an der Schule unterrichtete. Er hat einen Freund, der Runólfur heißt. Hat Lilja den vielleicht jemals erwähnt?«
»Runólfur? Ist das auch ein Freund von dir?«
»Nein«, sagte Elínborg, die merkte, dass sie sich in eine unangenehme Lage hineinmanövriert hatte. Sie mochte Hallgerður nicht die Wahrheit sagen und damit womöglich einen Verdacht wecken, der vielleicht jeder Grundlage entbehrte. Das wollte sie der Frau nicht zumuten, zumal sie ja auch eigentlich gar nichts in der Hand hatte. Trotzdem hatte sie wissen wollen, ob die Nennung der Namen irgendeine Reaktion hervorrufen würde.
»Wieso fragst du jetzt wieder nach Lilja und bringst diese beiden Männer mit ihr in Verbindung?«, fragte Hallgerður. »Gibt es da etwas Neues, das du mir nicht sagen willst? Was bezweckst du damit?«
»Es tut mir leid«, antwortete Elínborg. »Ich hätte diese Namen nicht erwähnen sollen. Sie haben nichts mit Liljas Verschwinden zu tun.«
»Ich kenne sie gar nicht.«
»Nein, damit habe ich auch nicht gerechnet.«
»Runólfur? Hieß nicht der Mann so, der in Reykjavík ermordet wurde?«
»Ja.«
»Ist er das? Ist das der Mann, nach dem du mich gefragt hast?«
Elínborg zögerte.
»Dieser Eðvarð hat Runólfur gekannt.«
»Runólfur gekannt? Und deswegen kommst du hierher? Hat dieser Runólfur etwas mit meiner Lilja zu tun?«
»Nein«, sagte Elínborg. »Was Lilja betrifft, so gibt es nichts Neues. Wir wissen nur, dass Eðvarð und Runólfur befreundet waren.«
»Und was haben sie mit Lilja zu tun?«
»Nichts.«
»Aber du bist doch gekommen, um danach zu fragen?«
»Ich wollte nur wissen, ob dir diese Namen bekannt vorkommen. Das war alles.«
»Gut zu wissen, dass ihr Lilja noch nicht vergessen habt.«
»Wir tun unser Bestes.«
Elínborg beeilte sich, das Thema zu wechseln. Sie befragte die Mutter nach Liljas täglicher Routine und versicherte ihr, dass die Kriminalpolizei immer noch interessiert an weiteren Hinweisen sei, trotz der Jahre, die inzwischen verstrichen waren. Sie saß noch eine Weile mit der Frau zusammen und verabschiedete sich von ihr, als es dämmrig wurde. Hallgerður begleitete sie zum Auto, sie schien den eisigen Nordwind nicht zu spüren.
»Hast du je einen nahen Angehörigen auf diese Weise verloren?«, fragte sie Elínborg.
»Nein, nicht auf diese Weise, wenn du meinst, dass …«
»Es ist, als ob die Zeit stehen bleibt – und nicht wieder in Gang kommt, bevor man nicht weiß, was geschehen ist.«
»Es ist entsetzlich, wenn so etwas passiert.«
»Das Traurige ist, dass es nicht vorbei ist. Wir können uns nicht einmal richtig von ihr verabschieden, weil wir nichts wissen«,
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