Frevelopfer
sagte Hallgerður mit vor der Brust verschränkten Armen und lächelte schwach. »Mit Lilja ist etwas verschwunden, das wir nie wieder zurückbekommen werden.«
Sie strich sich über die Haare.
»Vielleicht wir selbst.«
In der Bäckerei, wo Áslaug arbeitete, war nicht viel los. Auf dem Rückweg nach Reykjavík fuhr Elínborg dort vorbei. Die Türklingel schepperte unangenehm, als sie eintrat. Der Nordwind hatte stark aufgefrischt und wehte sie regelrecht zur Tür herein. Der angenehme Duft von frisch gebackenem Brot und Kuchen schlug ihr entgegen. Eine junge Frau mit Schürze bediente und gab gerade einem Mann das Wechselgeld zurück. Sie schloss die Kasse und lächelte Elínborg an.
»Gibt es Ciabatta?«, fragte Elínborg.
Die Frau sah ins Regal. »Ja, zwei sind noch da.«
»Die hätte ich gern. Und ein Mischbrot, geschnitten, bitte.«
Die junge Frau steckte die Ciabattas in eine Tüte und nahm das Brot aus dem Regal. An der Schürze war ein Namensschild befestigt: »Áslaug«. Die beiden Frauen waren jetzt allein im Geschäft.
»Bitte schön«, sagte die junge Frau.
Elínborg reichte ihr ihre Scheckkarte.
»Soweit ich weiß, warst du seinerzeit eng mit Lilja befreundet?«, sagte Elínborg. »Du bist doch Áslaug?«
»Ja«, entgegnete sie und tippte mit dem Zeigefinger auf das Bild. »Ich bin Áslaug. Hast du Lilja gekannt?«
»Nein. Ich bin von der Kriminalpolizei in Reykjavík. Ich hatte hier zu tun, und bei meinem Gespräch mit den Kollegen hier in Akranes fiel Liljas Name. Wir sprachen über ihr Verschwinden, das nie aufgeklärt werden konnte. Sie sagten mir, dass du ihre beste Freundin warst.«
»Ja«, sagte Áslaug, »das war ich. Wir waren … Sie war ein supernettes Mädchen. Habt ihr über uns gesprochen?«
»Wir sprachen über ihr Verschwinden«, sagte Elínborg und nahm ihre Scheckkarte wieder von Áslaug in Empfang. »Wollte sie damals nicht bei dir übernachten?«
»Ja, das hat sie ihrer Mutter gesagt. Ich dachte, sie wäre vielleicht einfach zu ihren Großeltern aufs Land gefahren, das hat sie oft gemacht. Ich habe keinen Gedanken darauf verschwendet. Morgens hatten wir noch miteinander telefoniert und überlegt, ob wir abends ins Kino und anschließend zu mir nach Hause gehen sollten. Wir waren dabei, eine Reise nach Dänemark zu planen. Nur wir beide. Und dann … Dann ist es passiert.«
»Der Erdboden scheint sie verschluckt zu haben.«
»Es war unglaublich«, sagte Áslaug. »Richtig absurd. Einfach absurd, wie so etwas passieren kann. Ich weiß nur eins, dass sie nicht Selbstmord begangen hat. Es muss irgendein absurder Unfall passiert sein. Sie ist häufig am Meer spazieren gegangen. Das ist das Einzige, was mir einfällt. Dass sie da ausgerutscht ist und sich verletzt hat und ertrunken ist oder so etwas.«
»Du schließt Selbstmord aus?«
»Absolut. Für mich kommt das überhaupt nicht infrage. Sie suchte nach einem Geburtstagsgeschenk für ihren Großvater, das hatte sie mir morgens erzählt. Zuletzt wurde sie hier in einem Sportwarengeschäft gesehen, wo auch Reitzubehör verkauft wird. Ihr Großvater lebt nur für seine Pferde. In dem Laden wurde sie zuletzt gesehen, und dann ist sie verschwunden. Und niemand weiß etwas.«
»Was sie in dem Geschäft gesucht hat, gab es dort nicht«, sagte Elínborg, die die Zeugenaussagen überflogen hatte.
»Nein.«
»Und dann gab’s keine Spur mehr von ihr.«
»Wie gesagt, das ist unbegreiflich. Mir ist gar nicht eingefallen, nach ihr zu fragen, als sie sich abends nicht meldete. Wir hatten ja so gesehen nichts fest ausgemacht, und sie ist oft aufs Land gefahren, ohne Bescheid zu sagen. Ich dachte einfach, dass sie dort wäre.«
Die Türklingel schepperte wieder, und ein neuer Kunde erschien. Áslaug verkaufte ihm Brötchen und Kopenhagener. Ein weiterer Kunde betrat den Laden, und Elínborg wartete geduldig.
»Wie ist es ihren Eltern ergangen?«, fragte Elínborg, als sie wieder allein waren.
»Unterschiedlich«, antwortete Áslaug. »Es war eine große Belastung für die Ehe. Hallgerður wurde auf einmal sehr religiös und trat einer Sekte bei. Áki ist ganz anders. Er schweigt nur.«
»Du und Lilja, ihr seid zusammen zur Schule gegangen, nicht wahr?«
»Ja, seit wir zurückdenken können.«
»Ihr wart auch zusammen in der weiterführenden Schule?«
»Ja.«
»Fühlte sie sich nicht wohl dort?«
»Doch, sehr. Ich auch. Sie war ein totales Genie in Mathematik. Physik und all diese anderen naturwissenschaftlichen Fächer
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