Frevelopfer
starrte Elínborg an, die auf dem Treppenabsatz des Wohnblocks in Kópavogur vor ihm stand. Er wollte sie nicht in die Wohnung lassen, deswegen musste sie ihm im Hausflur sagen, worum es ging. Sie hatte eine Liste mit über zwanzig Namen von Leuten erhalten, die einmal in der »Epidemie« gewesen waren, wie das Quarantänekrankenhaus von Reykjavík seinerzeit genannt worden war. Sie waren die letzten Patienten gewesen, denn Mitte des letzten Jahrhunderts war die Schutzimpfung eingeführt worden.
Der Mann war äußerst misstrauisch und blieb hinter der halb geöffneten Wohnungstür stehen. Elínborg konnte nicht sehen, ob er eine Beinschiene trug. Sie erklärte ihm, dass die Kriminalpolizei mit einer bestimmten Gruppe von Menschen Verbindung aufnehmen müsste, die in jungen Jahren in der »Epidemie« gewesen waren. Es hinge mit einem Verbrechen zusammen, das in Reykjavík verübt worden war, genauer gesagt im Þingholt-Viertel.
Der Mann hörte ihr zu und erkundigte sich dann genau danach, wen oder was sie eigentlich suchten, und sie sagte es ihm: einen Mann, der möglicherweise immer noch eine Beinschiene trug.
»Dann erübrigt es sich, mit mir zu reden«, sagte der Mann und öffnete die Tür etwas weiter, sodass sie beide Beine sehen konnte. Er trug keine Schiene.
»Vielleicht erinnerst du dich aber an einen Jungen, der mit dir in der Epidemie war und eine Schiene tragen musste, ich meine, in seinem späteren Leben?«
»Das geht dich wirklich nichts an, meine Liebe«, sagte der Mann. »Auf Wiedersehen.«
Damit war das Gespräch beendet. Es war der dritte Mann, den Elínborg kontaktiert hatte. Bislang waren die Begegnungen in sehr freundlichem Ton verlaufen, hatten aber nichts gebracht.
Der nächste Name auf der Liste gehörte zu einem Mann, der in einem Reihenhaus im Vogar-Viertel lebte. Er war sehr viel hilfsbereiter, nachdem er Elínborgs Erklärungen gehört hatte. Er bat sie freundlich in seine Wohnung. Er trug keine Beinschiene, aber Elínborg bemerkte gleich, dass sein linker Arm gelähmt war.
»Bei dieser letzten Epidemie haben sich Leute in ganz Island angesteckt«, sagte der Mann, der Lúkas hieß. Er war über sechzig, schlank und agil. »Ich war vierzehn und lebte damals in Selfoss, und ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie entsetzlich es mir ging. Ich hatte Schmerzen am ganzen Körper wie bei einer schlimmen Grippe, und ich war von Kopf bis Fuß gelähmt, ich konnte mich überhaupt nicht bewegen. Das war das Schlimmste, was ich je in meinem Leben erlebt habe.«
»Es war eine furchtbare Krankheit«, sagte Elínborg.
»Niemand kam auf die Idee, dass es Kinderlähmung sein könnte«, fuhr Lúkas fort. »Das ist niemandem eingefallen. Die Leute glaubten einfach, dass es mal wieder eine Grippewelle war. Doch dann stellte sich etwas ganz anderes heraus.«
»Und du wurdest in die ›Epidemie‹ gebracht?«
»Ja, ich kam in Quarantäne, als sich herausstellte, was wirklich los war, und wurde in dieses Haus in Reykjavík geschickt, das man die ›Epidemie‹ nannte. Die Leute dort kamen aus allen Landesteilen, es waren zum größten Teil Kinder und Jugendliche. Meiner Meinung nach habe ich Glück gehabt, denn ich habe mich praktisch wieder ganz davon erholt. Ich war auch in der Reha, aber ich habe seitdem keine Kraft mehr im linken Arm.«
»Kannst du dich an andere in der ›Epidemie‹ erinnern, die Beinschienen oder etwas Ähnliches tragen mussten; ich kenne mich da nicht so aus.«
»Leider weiß ich nicht, was aus denjenigen geworden ist, die ich dort kennengelernt habe. Solche Kontakte verlieren sich so schnell. Da kann ich dir leider nicht weiterhelfen. Aber eines kann ich dir sagen: Die Leute, die dort waren, die Kinder, mit denen ich zusammen war, die wollten sich nicht unterkriegen lassen.«
»Die Leute haben wahrscheinlich ihr Schicksal unterschiedlich bewältigt«, sagte Elínborg.
»Ich hab oft gesagt, dass bei uns die Zukunft aufgeschoben wurde, aber wir wollten sie unbedingt wieder einholen, und das haben wir getan. Ich denke, dass bei uns ganz allgemein der Gedanke vorherrschte, uns nicht unterkriegen zu lassen. Es wäre einem nie eingefallen aufzugeben. Nie im Leben.«
Elínborg fuhr durch den Hvalfjörður-Tunnel und kam bei steifem Nordwind in Akranes an. Sie war mit den Eltern der verschollenen Lilja verabredet. Sie hatte bei der Mutter angerufen, die sich manchmal bei der Kriminalpolizei meldete, um sich zu erkundigen, ob es etwas Neues im Fall ihrer Tochter gäbe. Die
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