Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
zwangsläufig seine Stelle.«
»Das ist zu vermuten.«
»Wie ich höre, ist er sehr versiert. Vielleicht könnte der Minister –«
»Sie bitten den Minister, sich mit dem Schicksal eines Kirchenorganisten zu befassen? Als nächstes werden Sie sich noch für den Küster einsetzen.«
»Ich hatte gedacht –«
»Sie scheinen sich nicht recht darüber im klaren zu sein, Baratte, worin Ihre Aufgabe hier besteht. Sie werden Ihre Arbeit so rasch wie möglich beginnen. Sie werden sich nicht von irgendwelchen belanglosen Hindernissen aufhalten lassen. Wenn Sie nicht bis Neujahr angefangen haben, wird man Sie durch jemand Tüchtigeren ersetzen. Ist das klar?«
»Vollkommen, Monsieur. Darf ich über das sprechen, was ich tun soll? Meine Anwesenheit hier gibt Anlass zu Vermutungen, Gerüchten.«
»Gerüchten ist mit Erklärungen nicht Einhalt zu gebieten.«
»Und wie wird mit den streblichen Überresten verfahren?«
»Den Gebeinen? Dazu werden Sie in Kürze Näheres hören.«
Ein Moment ungemütlicher Stille tritt zwischen ihnen ein. Lafosse’ kleine Augen erfassen das Zimmer und verharren kurz auf dem Pianoforte. Es zu betrachten scheint ihm irgendeine heimliche Belustigung zu verschaffen.
»Finden Sie Ihre neue Unterkunft nach Ihrem Geschmack?« fragt er.
10
WIE SCHWIERIG IST ES , dreißig Männer zu finden? In solchen Zeiten nicht schwierig. Aber dreißig gute Männer, Männer, die die Arbeit aushalten können?
Er hat sich schon entschieden, wo er nach ihnen suchen wird: in den Bergwerken von Valenciennes. Dort gibt es Männer, Empfänger von Hungerlöhnen, gewöhnt an eine Form von Arbeit, die andere binnen einem Monat umbringen würde.
Er schreibt an Lecoeur. Lecoeur ist – oder war – einer der Aufseher am Nordflöz. Als Jean-Baptiste im Bergwerk arbeitete, hatten die beiden – von aller Gesellschaft isoliert, halb versteckt in jenem feuchtkalten, entlegenen Winkel von Nordfrankreich, ihre Nerven vom Qualm, dem Lärm der Maschinen, der gelegentlichen Unzivilisiertheit des Ortes bis zum Zerreißen gespannt – so etwas wie eine Übereinkunft, eine enge Vertrautheit, die freilich bei Jean-Baptistes Abreise sofort zu bestehen aufhörte.
Sie hatten, zumal in jenem ersten, nicht enden wollenden Winter, die Angewohnheit, Utopien zu erfinden, in denen alles, was sie, ihre Ohren, Augen, ihre jungen Herzen beleidigte, in der Phantasie wiedergutgemacht wurde. Ihre Lieblingsschöpfung, die detaillierteste und zufriedenstellendste, war Valenciana. In Valenciana waren Ökonomie und Moral, Tugend und Fleiß zu Nutzen und Frommen aller miteinander verwoben. Es gab Plätze mit kleinen, ordentlichen Häusern für die Familien, Wohnheime für alleinstehende Männer, Parks, in denen die Luft sauber war und die Kinder spielen konnten, so wie es andere taten, spielen und vielleicht weniger missgestaltet aufwachsen als ihre Väter. In Valenciana wurde kein Kind unter zwölf in einen Bergwerksschacht geschickt. Niemand, der jünger war als zehn, wurde über Tage als Karrenschieber, Bremser und dergleichen eingesetzt. Es gab Schulen, geleitet von gütigen, gebildeten Männern – Männern wie Jean-Baptiste und Lecoeur. Kirchen gab es in Valenciana nicht (ein Abend, an dem besonders leidenschaftlich debattiert wurde), obwohl an öffentlichen Plätzen Statuen der einschlägigen klassischen Gottheiten standen: eine Athene, ein Apollo, ein Prometheus, aber kein Dionysos, keine Aphrodite. Auf Lecoeurs Insistieren hin gab es auch keine Orte, an denen Männer zusammenkommen konnten, um starken Alkohol zu konsumieren. Es war mehr als ein Spiel. Sie besprachen sogar die Möglichkeit, Valenciana in Form eines Buches vorzustellen, und träumten, zumindest einen Abend lang, gemeinsam davon, wie sie, schüchtern, aber voll Selbstvertrauen, die Runde durch die Salons der Hauptstadt machten.
War Lecoeur immer noch in den Bergwerken? Würde er sich für den Friedhof interessieren? Der Brief geht am 7. November 1785 mit der Mittagskutsche nach Lille ab.
Als er sich nach Pferden erkundigt, wird er auf Umwegen an einen jungen Offizier verwiesen, mit dem er sich in einem Wirtshaus in der Nähe der Sèvres-Porzellanmanufaktur an der Straße nach Versailles trifft. Der Offizier kann offenbar alles besorgen. Es beschränkt sich keineswegs auf Pferde.
In seinem blauen Rock und den cremefarbenen Strümpfen (und was für unglaublich lange Beine er hat!) scheint sich der junge Mann, der auf den Namen Louis Horatio Boyer-Duboisson hört, in
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