Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
von Bedeutung. Es ist niemand da, der ihn sehen könnte, und wenn, wäre es ihm gleich. Auf dem Tisch brennt ständig eine kleine Lampe, ein in Öl schwimender Docht, eine kleine (durch seine Brille blau erscheinende) Flamme, die einmal in der Kapelle Saint-Sébastien flackerte. Nachts streifen hier in der Stadt der Teufel und seine Diener umher, und Père Colbert möchte ihnen nicht in der tiefen, undurchdringlichen Dunkelheit begegnen, die ohne die Lampe herrschen würde. Dass er ihnen begegnen wird, begegnen muss, damit hat er sich abgefunden. Es kann sogar sein, dass er einen ihrer Kundschafter überrascht hat, der heute vormittag bei der Orgel herumschlich. Durchlief nicht die ganze Kirche ein starkes Unbehagen? Hörte er nicht die Schläfer in der Krypta ein leises Stöhnen der Angst ausstoßen? Auf irgendwelche Hilfe, irgendwen, der die Last der Wachsamkeit mit ihm teilt, kann er nicht hoffen (es heißt, der Bischof habe eine Mätresse, habe Kinder gezeugt). Er ist allein auf seinem Posten, so allein wie damals, als er seine Tage im Staub der Provinz Hunan zubrachte, wo man ihn eines Morgens auf den großen Platz schleppte und er unter den Gesichtern in der Menge ganz deutlich die Augen des Großen Widersachers sah und hinterher überhaupt nichts mehr deutlich sehen konnte …
Er behält die Türen im Auge, diejenige, die auf die Straße führt, und die andere zur Apsis hinter dem Altar. Sie sind Schemen, bloße Schemen, aber er wird es merken, wenn jemand die Klinke drückt, wenn sie geöffnet werden.
Jeannes Bett – in dem sie tief und fest schläft – steht quer am schweren, beschnitzten Fußende des Bettes ihres Großvaters. An ihrem letzten Geburtstag, dem vierzehnten, hat er das neue Bett die Treppe hinaufgetragen und ihr gesagt, sie sei zu alt, schon zu sehr eine Frau, um sich schicklicherweise eine Matratze mit einem anderen als einem Ehemann teilen zu können. Sie hat geweint, als er das sagte, vor Kummer gezittert, denn sie hat seit frühester Kindheit neben ihm geschlafen, seit ihre Eltern und ihre beiden Schwestern zwischen einem Sonntag und dem nächsten am Schweißfieber gestorben sind. Allein liegen zu müssen weckte in ihr eine plötzliche, blinde Erinnerung an diesen Verlust, und sie wartete viele Nächte lang darauf, dass der alte Mann nachgab, doch er tat es nicht, und sie hat sich daran gewöhnt, an die neue Regelung, ihren neuen Status als Frau.
Im Augenblick träumt sie von dem Friedhof, der mit Blumen bedeckt ist, weißen, rosafarbenen, gelben und dunkelroten. Es ist ein schöner Traum, voller Verheißung, und sie lächelt darüber, während über ihr, über rissigen, rauchschwarzen Balken so alt wie die Kirche, der Kater Ragoût neben einem warmen Kaminaufsatz sitzt und sich mit einer abgeleckten Vorderpfote nachdenklich über das verstümmelte Ohr streicht. Auf dem Friedhof, in einem Torbogen des südlichen Beinhauses, erregt etwas seine Aufmerksamkeit. Er starrt hin, stellt jede Bewegung ein, drückt sich dann flach auf die Ziegel.
9
» DER MINISTER «, sagt Monsieur Lafosse, »ist mit Ihren Vorschlägen einverstanden. Sie bekommen die Männer, die Sie brauchen. Desgleichen die Pferde und das Bauholz. Dieser Beutel – Sie werden dafür unterschreiben, hier und hier – enthält fünfhundert Livres. Und das hier sind Wechsel. Sie können sie im Haus von Kellerman, dem Goldschmied in der Rue Saint-Honoré, einlösen. Wir erwarten, dass über jeden Sou Rechenschaft abgelegt wird. Ich versichere Ihnen, der Minister wird nicht erbaut sein, wenn er zum Beispiel feststellen sollte, dass Sie fünfzig Livres für einen neuen Rock ausgegeben haben.«
Jean-Baptiste errötet. Er hat große Lust, sich zu rechtfertigen, doch fällt ihm nicht unmittelbar ein, worin seine Rechtfertigung besteht. Dass er betrunken war und modern sein wollte? Als modern gelten wollte?
»Ihre Nachfrage betreffend, was in der Kirche erhalten bleiben soll, ist die Antwort die gleiche, die Sie schon einmal bekommen haben: Nichts.«
»Und der alte Priester?«
»Wir verlangen nicht von Ihnen, einen Priester zu demolieren.«
»Ich meine, wird er keine Einwände erheben?«
»Wieso? Es ist nicht seine Kirche.«
»Aber er wird nicht wollen –«
»Werden Sie etwa nicht mit einem alten Priester fertig?«
»Doch … natürlich.«
»Dann gibt es keine Schwierigkeiten.«
»Es gibt da noch einen Musiker. Den Kirchenorganisten.«
»Was ist mit ihm?«
»Wenn es die Kirche nicht mehr gibt, verliert er
Weitere Kostenlose Bücher