Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
der Welt ganz und gar zu Hause zu fühlen. Beiläufig finden ein Vater, ein Besitz in Burgund Erwähnung. Offenbar weiß er mehr über Jean-Baptistes Arbeit, als dieser ihm seiner Erinnerung nach erzählt hat. Hat er Beziehungen zum Minister? Zu Lafosse? Irgendein hübsches Dreiecksgeschäft, durch das staatliche Mittel an den Staat oder wenigstens an dessen Vertreter zurückfließen? Sie kommen überein, sich in einer Woche wieder zu treffen, damit Jean-Baptiste eine Auswahl der Tiere in Augenschein nehmen kann. Sie verbeugen sich voreinander, und obwohl der Ingenieur den Soldaten, der ihn an einen jungen Comte de S- erinnert, weder mag noch ihm traut, wünscht er sich dennoch ein wenig, er wäre dieser Soldat, trüge das Leben wie ein gutes Hemd und könnte, wenn das Wetter sich bessert, zu den Wäldern und Flüssen auf dem Besitz seines Vaters in Burgund reiten.
Das Wetter bessert sich nicht. Wolken verfangen sich zwischen den Schornsteinen von Paris. Der Wind kommt von Osten. An den meisten Nachmittagen ist es im Haus schon früh so dunkel, dass man nicht mehr bequem lesen kann.
Jeden Tag zwingt sich Jean-Baptiste, auf den Friedhof zu gehen, innerhalb der Mauern herumzuspazieren, mal allein, mal in Begleitung des Mädchens, das von den Toten unter ihren Füßen wie von einer ausgedehnten Großfamilie spricht. Sie gibt sogar vor, viele der auf dem Boden verstreuten Gebeine identifizieren zu können – dieser Kieferknochen gehöre einer Madame Charcot, jenes Oberschenkelbein stamme von einem Monsieur Mericourt, einem Hufschmied, der an einer Erkältung gestorben sei.
Jean-Baptiste seinerseits denkt lieber nicht daran, dass Gebeine Besitzer, Namen haben. Wenn er anfangen muss, sie als ehemalige Menschen, Hufschmiede, Mütter, vielleicht frühere Ingenieure zu behandeln, wie soll er es dann je wagen, einen Spaten in die Erde zu stechen und für alle Ewigkeit einen Fuß von einem Bein, einen Kopf von seinem rechtmäßigen Hals zu trennen?
In der Rue de la Lingerie erweisen sich seine Abende mit den Monnards als nicht ganz so bar allen Vergnügens, wie er zunächst befürchtet hat. Mit Monsieur Monnard spricht er auf vage, verhaltene Weise über Politik. Steuern, Versorgungsengpässe, die Staatsfinanzen. Monsieur ist, wenig überraschend, kein Liberaler. Er spricht abfällig von Voltaire, von Rousseau, von Wolkenkuckucksheimen, den Salons, der Agitation. Er ist, wie es scheint, Befürworter einer wenn nötig streng durchgesetzten Ordnung. Auch von Handel und Gewerbe, dem Arbeitsfleiß und der Achtbarkeit der Ladenbesitzer. In seinen Antworten beschränkt sich Jean-Baptiste auf allgemeine Bemerkungen darüber, dass Reformen wünschenswert seien, die Art von Kommentaren, an denen sich nur der reaktionärste Aristokrat stören könnte. Die Verhältnisse werden manchmal besser und gerechter, doch wie sich das, außer durch irgendeine Form von geistiger Ausstrahlung, praktisch bewerkstelligen lässt, weiß er nicht. Weiß es überhaupt irgendwer? Eines Abends erwähnt er beinahe seine alte Utopie, Valenciana, verkneift es sich dann aber doch. Von einem Mann wie Monnard, der nur die Zeitung liest, kann man nicht erwarten, dass er das versteht, und außerdem ist die Erinnerung an jene Abende an dem nie ganz ausreichenden Kohlenfeuer in Lecoeurs Wohnzimmer nicht ohne eine gewisse Peinlichkeit. Jene jüngere, geschwätzigere Version seiner selbst, die beiden in den Schatten des Zimmers zusammengesteckten Köpfe, die seltsame Dringlichkeit, die das Ganze hatte …
Mit Madame bespricht er die Kompliziertheiten des Wetters. Hat der Wind heute etwas kräftiger geweht? War es vor- oder nachmittags kälter? Für wie wahrscheinlich hält es Monsieur Baratte, dass es schneit? Mag er Schnee? Jede Art von Schnee?
Und dann ist da noch Ziguette. Gespräche mit Ziguette – mal bei Tisch, mal auf der Ruhebank am Kamin oder am Platz am Fenster, von dem aus man den Friedhof überschaut – erfordern größere Mühe. Er versucht es mit Musik, aber davon versteht sie sogar noch weniger als er, hat noch nie von Clérambault oder einem aus der Familie Couperin gehört. Mit dem Theater ist es ebenso hoffnungslos – keiner von beiden kennt sich damit aus –, und was Bücher angeht, so wird deutlich, dass sie nicht mehr Gebrauch davon macht als ihre Eltern. Er fragt sie nach ihrer eigenen Geschichte; das Thema scheint sie zu langweilen. Sie erkundigt sich nach seiner Arbeit, und er ist gezwungen, drumherumzureden. Er fragt sich, ob
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