Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
nicht einmal mehr den Trost intelligenter Gesellschaft. Die neuen Aufseher – keiner scheint es viel länger als ein Jahr auszuhalten – sind wenig gebildet und denken nur kaufmännisch, während die Bergleute und ihre fürchterlichen Frauen weiterhin wie halb zahme Hunde leben. Was die Möglichkeit ihrer Einstellung angeht, gibt es das übliche Überangebot an Arbeitskräften und die damit zusammenhängende große Not. Dreißig Mann oder auch sechzig dürften kein Problem darstellen. Worum geht es bei diesem so verlockend präsentierten Projekt? Noch dazu in Paris! Wird vielleicht noch jemand gebraucht, der die Männer kennt, der sie gründlich in ihre Aufgaben einweisen kann? Jemand Gewissenhaftes und Diskretes? Dazu noch ein Philosphenkollege?
Der andere Brief, auf gutem Papier und in tadelloser Schrift, kommt von jemandem namens Verteuil an der Akademie der Wissenschaften. Es geht um bestimmte Vorbereitungen, die in einer Grube in der Nähe der Porte d’Enfer, südlich des Flusses, zur Aufnahme der sterblichen Überreste aus der Kirche und dem Friedhof der Unschuldigen getroffen werden. Man hat ein Haus erworben und die Kellertreppe verlängert, so dass sie bis in die Schächte hinabreicht, und im Garten befindet sich ein Brunnenschacht mit einem Durchmesser von über drei Metern, der in ebendiesen Schächten endet, die hinlänglich trocken und für den vorgesehenen Zweck durchaus geeignet sind. Wenn alles soweit ist, wird der Bischof die entsprechenden Gänge und Kammern weihen. Sobald dies geschehen ist, kann Monsieur l’Ingénieur mit den ersten Transporten beginnen. Ob Monsieur l’Ingénieur so freundlich wäre anzugeben, mit wie vielen Gebeinen seiner Einschätzung nach zu rechnen ist.
Jean-Baptiste faltet den Brief zusammen, legt ihn in sein Notizbuch. Wie viele Gebeine? Er hat nicht die leiseste Ahnung.
11
BEVOR ER NACH VALENCIENNES abreist, sucht er Armand auf und erzählt ihm alles. Er ist es nicht gewöhnt, Geheimnisse mit sich herumzutragen, und die nicht preisgegebene Wahrheit liegt ihm im Magen wie eine der herzhaften Sülzen der Monnards. Das verdankt sich, wie er weiß, dem unentrinnbaren Einfluss der Religion seiner Mutter, die so ungeheuren Wert auf das Gewissen, auf unermüdliche moralische Buchführung legt. Außerdem verdankt es sich dem Wunsch, dem einzigen Menschen in Paris etwas anzubieten, den für einen Freund zu halten er irgendeinen Grund hat, denn sie haben sich seit jenem ersten Tag noch drei-, viermal getroffen und ihr Interesse aneinander, ihr Vergnügen an der Andersartigkeit des jeweils anderen bekräftigt. Und außerdem wird ohnehin bald alles herauskommen. Besser jetzt, als wenn dreißig wild dreinschauende Bergleute mit Spitzhacken und Hämmern durch die Kirche marschieren.
Er findet Armand (an einem kalten Vormittag) in der Rue Saint-Denis, wo der Organist mit einer Krabbenverkäuferin schäkert und dabei ab und zu – ohne den Blickkontakt mit dem Mädchen zu unterbrechen – nach oben greift und sich einen der kleinen, rosafarbenen Körper von dem Tablett auf ihrem Kopf nimmt. Er begrüßt Jean-Baptiste, fasst ihn unter, geht mit ihm die Straße auf und ab, hört sich seine unbeholfene Einleitung an, unterbricht ihn dann, um ihn auf zwei schwermütige Hunde hinzuweisen, die in der Gosse vor dem Laden eines Hutmachers kopulieren, und lädt ihn, ehe Jean-Baptiste mit seiner Beichte fortfahren kann, zum Abendessen in sein Quartier ein.
»Lisas Bälger werden auch da sein, aber das Essen ist immer anständig. Jedenfalls schmeckt es nicht nach Friedhof. Und später haben wir auch noch etwas Gesellschaft.«
Sie vereinbaren, sich um Punkt sieben am italienischen Brunnen zu treffen. Jean-Baptiste ist zehn Minuten vor der vollen Stunde da, muss aber weitere vierzig warten, ehe Armand auftaucht. Es erfolgt keine Entschuldigung, keine Rechtfertigung. Gemeinsam machen sie sich auf den Weg, schreiten von einer kleinen Lichtbucht zur nächsten, während der Organist, mit seinen langen weißen Fingern wedelnd, in Fetzen von Griechisch und Kirchenlatein eine Lobrede auf die Schönheit, das schiere Ausmaß der Brüste seiner Hauswirtin hält.
Bis zur Rue des Ecouffes ist es ein zwanzigminütiger Fußmarsch in Richtung der Place Royale und der Bastille. Im Erdgeschoss des Hauses befindet sich ein Laden, der sich auf die Herstellung und Reparatur von Spiegeln spezialisiert hat, und vor einem davon, der im Fenster ausgestellt ist, verhalten die beiden Männer einen Moment lang,
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