Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
sie verliebt ist, natürlich nicht in ihn, sondern in jemand anders. Er fragt sich, ob er sie begehrt. Er ist sich nicht ganz sicher. Sein Interesse an ihr scheint nicht ausgeprägter zu sein als das an dem kleinen Dienstmädchen mit den behaarten Armen, das die Teller hereinbringt. Und was eine Heirat angeht … könnte er das? Die Tochter – die sehr hübsche Tochter – eines wohletablierten Pariser Ladenbesitzers gälte bei den meisten Menschen als anständige Partie, die Vorteile für beide Seiten böte. Er führt, manchmal während er mit ihr spricht, kleine Gedankenexperimente durch, in denen sie beide zusammen in einem Zimmer, einem Einspänner, einem Himmelbett sind, ihr Atem wieder rein, weil er den Friedhof beseitigt hat, ein Päckchen mit dem Geld ihres Vaters in einer verschlossenen Schatulle unter dem Bett … Solche Gedanken sind nicht unangenehm, und doch sind die Bilder dünn wie Seidenpapier. Keines davon überzeugt.
Was das Essen der Monnards angeht, so ist es auch weiterhin so rätselhaft ungenießbar wie eh und je. Sogar bei einem Apfelkuchen muss er an jene kleinen, silbrigen Pilze denken, die in den feuchtesten Ecken eines Kellers wachsen, und dennoch isst er stets seinen Teller leer. Zum Teil ist das eine Gepflogenheit, die ihm schon in frühester Kindheit vom Handrücken seines Vaters eingebleut und später von den Stockschlägen und Strafmaßnahmen der Brüder der Oratorianischen Kongregation in Nogent bekräftigt wurde, doch zum Teil gewöhnt er sich nach fast fünf Wochen im Haus schlicht und einfach daran, gewöhnt sich an alles. Und wenn das Abendessen vorbei ist, zieht er sich auf sein Zimmer, zu dem Hausrock und ein, zwei Seiten von Buffon zurück. Dann ins Bett, Kerze aus, der Katechismus. Er fragt sich nicht, ob er glücklich oder unglücklich ist. Die Frage wird aufgeschoben. Am Gaumendach hat er zwei Geschwüre, die er, im Dunkeln liegend, mit der Zungenspitze sondiert. Ist sein Atem jetzt auch schon befallen? Würde er es überhaupt merken? Ihm fällt beim besten Willen niemand ein, bei dem er sich darauf verlassen könnte, dass er es ihm sagen würde.
Am fünfzehnten trifft er sich erneut mit Louis Horatio Boyer-Duboisson. Es ist kurz vor der Dämmerung, und sie stehen auf einer Wiese hinter dem Wirtshaus, in dem sie sich zuvor schon getroffen haben. Die Pferde, insgesamt fünf, stehen im leichten Regen, an den Halftern gehalten von zwei Soldaten, die beide in ihren schlecht sitzenden Uniformen kaum älter als Kinder wirken.
Jean-Baptiste geht um die Pferde herum und bittet dann darum, dass sie um ihn herumgeführt werden. Sein Vater hatte ein gutes Auge für Pferde. Vielleicht ist diese Gabe vererbt worden, aber während er da im Nieselregen steht, hat er das Gefühl, die Haltung seines Vaters, jene kleinen Augen- und Mundbewegungen, die für Urteilskraft standen, lediglich nachzuahmen.
»Ich bezahle nicht für lahme oder kranke Tiere.«
»Natürlich«, sagt der Offizier. »Wer würde das schon?«
»Und Sie bringen sie unter, bis ich sie brauche?«
»Sie werden auf Sie warten.«
Die jungen Soldaten bleiben im Regen zurück, während Jean-Baptiste und Boyer-Duboisson sich in das Wirtshaus verfügen, um ihren Handel abzuschließen. Sie bitten um ein Nebenzimmer und werden in eines geführt. Jean-Baptiste leistet eine Anzahlung von hundert Livres. Er verlangt eine Quittung. Der Offizier hebt eine Augenbraue, dann lächelt er, als fiele ihm ein, mit wem er es hier zu tun hat, auf welcher Stufe der Rangordnung der andere steht. Sie trinken ein Glas mittelmäßigen Wein, dann gehen sie hinaus auf die Wiese, wo die Pferde und die jungen Soldaten beieinanderstehen wie ein einziges, kompliziertes Geschöpf, gekleidet in einen Mantel aus trübem Regen.
Zwei Briefe treffen ein. Sie werden Jean-Baptiste auf der Treppe von Marie übergeben. Sie verfügt über eine kleine, aber wirkungsvolle Palette von Gesichtsausdrücken, alle leicht beunruhigend.
Er bedankt sich, nimmt die Briefe mit auf sein Zimmer. Eine Ecke des ersten ziert ein rußschwarzer Daumenabdruck. Jean-Baptiste erbricht das Siegel. Der Brief ist von Lecoeur. Die mit Tintenflecken übersäte Handschrift wirkt, als wäre sie mit großer Geschwindigkeit zu Pferde aufs Papier geworfen worden, und ist teilweise unleserlich, aber die allgemeine Tendenz wird dennoch deutlich. Wie sehr er sich gefreut hat, von seinem alten Freund zu hören! Das Leben im Bergwerk ist so unangenehm wie eh und je, bietet inzwischen
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