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Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Titel: Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Miller
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obwohl es zu dunkel ist, um mehr als eine kurz zum Stehen gekommene Andeutung ihrer selbst erkennen zu können. Sie tasten sich drei steile Holztreppen hinauf zur Wohnungstür. Lisa Saget und die Kinder sind in der Küche. Hier gibt es Licht, ein Feuer, den Geruch von Essen. Armand begrüßt seine Hauswirtin mit einem Schmatz auf die Stirn, zaust den Kindern die Haare. An einem Spieß brät ein Huhn; das Mädchen hat die Aufgabe, ihn zu drehen. Es wirft einen kurzen Blick auf Jean-Baptiste, lächelt Armand an. Abgesehen von ihrer flachen Brust ist sie die vollkommene Miniaturausgabe ihrer beeindruckenden Mutter.
    »Monsieur Baratte«, sagt Armand, der in den Schrank hineinspricht, in dem er nach Gläsern und einer Flasche sucht, »der meine frühere Unterkunft bei den Monnards bewohnt.«
    Es ist offensichtlich, dass die Frau schon von ihm gehört hat. Sie sitzt am Kopfende des Tisches und macht irgend etwas mit dem essbaren Teil der Hühnerinnereien. Sie blickt auf und mustert ihn, diesen grauäugigen Mann, der in seinem grünen Rock verloren wirkt. »Isst er mit uns?« fragt sie.
    »Natürlich«, sagt Armand. »Er hat seit seiner Ankunft in Paris keine anständige Mahlzeit bekommen.«
    Jean-Baptiste setzt sich auf einen Hocker am Tisch. Er sitzt mit dem Gesicht zum Kamin, zu der Kleinen. Ihr Bruder kratzt sich am Rücken und sieht ihr hinter Armands Schulter hervor mit neidischen Blicken zu, wie sie den Bratspieß dreht.
    »Und was ist mit den Monnards?« fragt die Frau, während sie weiter mit ihrem Messer hantiert.
    »Ich glaube, es geht ihnen recht gut«, sagt Jean-Baptiste, dem bewusst ist, dass er danach eigentlich nicht gefragt worden ist.
    »Wir werden ihm ein anderes Quartier finden müssen«, sagt Armand, »wenn er vorhat zu bleiben.«
    »Hat er das denn?« fragt die Frau.
    »Wer weiß«, sagt Armand. »Er sagt nicht viel.«
    Jean-Baptiste mustert seine pistaziengrünen Aufschläge, fragt sich, ob der Tisch ganz sauber ist, ob es klug wäre, seinen Rock auszuziehen.
    »Ich werde eine Zeitlang bleiben«, sagt er, »wie lange genau, kann ich noch nicht sagen.«
    »Ich könnte nicht auf so einem Friedhof wohnen«, sagt die Frau. »Ich kann mir nicht vorstellen, was für Leute das Jahr für Jahr fertigbringen. Schlimm genug, dass Armand jedesmal danach riecht, wenn er zurückkommt.«
    »Sie reibt mich mit Zitronen ab«, sagt Armand. »Wäscht mich mit einer Seife aus Salbeiblättern und Asche. Räuchert mich mit Rosmarin …«
    »Wäre es nicht gut«, sagt Jean-Baptiste, »wenn der Friedhof beseitigt würde?«
    »Beseitigt?« Die Frau schnaubt verächtlich. »Und wie beseitigt man so einen Friedhof? Ebensogut könnte man den Fluss beseitigen.«
    »Es ließe sich machen«, sagt Jean-Baptiste ruhig. »Beides ließe sich machen.«
    Armand, der die Kopfhaut des Jungen untersucht und auf der Suche nach Ungeziefer die braunen Locken teilt, hält inne und schaut herüber.
    »Ist es das, was Sie vorhaben? Den Friedhof beseitigen?«
    »Natürlich wird es nicht einfach«, sagt Jean-Baptiste. »Es wird viele Monate dauern.«
    »Er ist wie deine anderen Freunde«, sagt Lisa. »Erzählen einem, der Mond ist eine Suppenschale, wenn sie meinen, man ist dumm genug, es zu glauben.«
    »Dabei macht er auf mich«, sagt Armand langsam, »einen vollkommen ernsthaften Eindruck.«
    »Es lässt sich machen«, sagt Jean-Baptiste. »Es wird gemacht.«
    »Der ganze Friedhof?« fragt Armand.
    »Der ganze Friedhof. Samt Kirche.«
    »Die Kirche auch?«
    »Sie wird noch eine Weile nicht angetastet werden. Vielleicht noch ein Jahr lang.«
    »Also«, sagt Armand leise, »ist es jetzt soweit.«
    »Ich hätte es Ihnen gern früher gesagt. Man hat mich angewiesen, die Sache für mich zu behalten.«
    Inzwischen hat die Frau ihre Arbeit eingestellt. »Und seine Stelle?« fragt sie. »Wird die auch beseitigt?«
    »Ich habe das … angesprochen«, sagt Jean-Baptiste.
    »Beim Minister?« fragt Armand.
    »Bei einem, der ihn vertritt.«
    »Kann ich mir Hoffnungen machen?«
    »Ich werde es noch einmal ansprechen.«
    Zwischen ihnen tritt Schweigen ein, das schließlich von einem scharfen Wort Lisas an ihre Tochter gebrochen wird, die, von dieser interessanten Geschichte zwischen den Erwachsenen gefangengenommen, aufgehört hat, den Spieß zu drehen.
    »Ich glaube«, sagt Armand, »ich glaube, ich sollte mich bei Ihnen bedanken.«
    »Dich bei ihm bedanken?« fragt die Frau. »Wofür denn?«
    »Die Kirche, meine Sanftmütige, ist schon seit fünf Jahren

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