Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
fast sofort wieder mit zwei großen, in geflochtenes Stroh gehüllten Töpfen zurück.
»Ich nehme an, meine Herren«, flüstert er, »Sie sind alle bewaffnet.«
Aus den Tiefen ihrer Röcke holen Renard, Fleur und de Bergerac Malerpinsel hervor. Sie zeigen sie kurz und verstauen sie rasch wieder.
Sie gehen hinunter auf die Straße. Mittlerweile ist es bitterkalt. Bitterkalt und feucht, eine strenge Winternacht ohne jede Romantik. Jean-Baptiste hat sich seinen Reitermantel bis zum Kinn zugeknöpft, wünscht sich jedoch wieder einmal, er trüge darunter seinen alten Anzug.
Von Armand angeführt, gelangen sie in die kleinen Straßen hinter der Rue Saint-Antoine. Die Stadt gehört ihnen – sie sehen niemanden, hören niemanden. Es ist jene kurze Stunde, der Gezeitenwechsel der Stadt, da die letzten Weinschenken das Gesindel hinausgeworfen haben, aber noch bevor die Marktkarren auftauchen, die großen, sechsrädrigen, an deren Seitenwänden Laternen baumeln, oder die Karawanen der Packpferde, erbarmenswerte Geschöpfe, die die ganze Nacht von Bauernhöfen und Gärten auf dem Land mit knirschenden Tragekörben in die Stadt getrottet sind.
Weiter durch die Rue Neuve, die Rue de l’Echarpe in die Säulengänge der Place Royale … Was auch immer sie hier tun, warum sie betrunken mit ihren Farbtöpfen über den Platz eilen, es wird nicht leicht zu erklären sein, falls sie auf eine Streife treffen. Und falls er – der frisch ernannte Ingenieur – sich Lafosse erklären müsste? Dem Minister? (Ich fühlte mich genötigt, Exzellenz. Unter den gegebenen Umständen meinte ich nicht ablehnen zu können, was lediglich wie ein harmloser Ausflug anmutete. Hätte ich gewusst, was diese Männer, deren Bekanntschaft ich erst kurz zuvor gemacht hatte, im Schilde führten …)
Sie kommen auf der Rue Saint-Antoine heraus, überqueren sie, passieren die Kirche Sainte-Marie, auf deren Treppe zusammengekauert ein Dutzend Bedürftige hocken und auf die erste Messe um fünf Uhr warten, auf eine Münze aus der Hand irgendeiner frommen Witwe hoffen.
Vor ihnen – ungefähr hundertfünfzig Meter entfernt – liegt jetzt die Festung der Bastille, ihre Mauern und Türme schwarze, von ungeschickter Hand aus der Nacht ausgeschnittene Formen. Sie überragt alles und erweckt doch irgendwie den Eindruck des in die Ecke Getriebenen, in der Falle Sitzenden: der letzte Basilisk, der sich aufbäumt, ängstlich und voll nutzloser Kraft. Und hinter diesen Mauern? Was? Unzählige Elendsgestalten, in Kellerverliesen angekettet, lebendig begraben? Oder bloß noch mehr Stein, Stein und Ballungen abgestandener Luft, mit ein paar verschlossenen Räumen, bewohnt von gelangweilten, aber nicht sonderlich inkommodierten Insassen, Schmieranten von Stand, die sich, nachdem sie eine Satire über irgendeinen königlichen Favoriten geschrieben hatten, plötzlich durch eine lettre de cachet aus ihrem Arbeitszimmer geholt sahen.
Sie bleiben in der Tür einer Werkstatt stehen. Die Straße vor ihnen ist leergefegt, Hüte werden tiefer gezogen, dann, auf ein rasches Wort von Armand hin, flitzen sie geduckt an der Vorderseite der Festung entlang zu dem dreibogigen Tor daneben, der Porte Saint-Antoine. Hier, an dem steinernen Tor, lässt die Regierung ihre Bekanntmachungen und Verfügungen anschlagen. Eine Erhöhung der Salzsteuer, eine neue Strafe für ungesetzliches Fischen in der Seine, für das Entleeren von Töpfen mit menschlichen Ausscheidungen auf der Straße zwischen sechs Uhr morgens und sechs Uhr abends. Das Datum, an dem der königliche Kaplan in der Sainte-Chapelle eine Predigt halten wird. Datum und Stunde einer Brandmarkung, einer Hinrichtung.
Solche Verlautbarungen zu beschmieren gehört zu dem stillschweigenden Handel zwischen Regierung und Volk. Manchmal greift sich die Wache einen hartnäckigen Missetäter, doch größtenteils erregt irgendein obszönes Gekritzel über die Königin – La pute autrichienne – oder einen berüchtigt wucherischen Steuerpächter kaum offizielle Aufmerksamkeit.
Heute nacht sind, auf frisch angeschlagenen Bekanntmachungen, Renard, Fleur, de Bergerac, Orgue und Bêche an der Reihe. Das Ganze geht in weniger als einer Minute über die Bühne. Jean-Baptiste hält dem wild pinselnden Renard einen der Töpfe und spürt, wie seine Wangen mit Farbe bespritzt werden. Er kann nicht einmal sehen, was sie schreiben, allenfalls das einzelne Wort » VOLK! « Dann wuseln sie mit ihren Pinseln und Töpfen davon wie Mäuse aus einer
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