Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
Speisekammer.
Atemlos in die Rue des Ecouffes zurückgekehrt, lädt Armand sie nach oben ein, damit sie die nächtliche Aktion feiern. Er meint, es gebe vielleicht noch irgendwo eine Flasche von dem Mandelschnaps, vielleicht unter dem Bett. Jean-Baptiste entschuldigt sich. Die späte Stunde, seine morgige Reise … Er nickt ihnen höflich, ja freundlich zu, aber sie wenden sich bereits von ihm ab, vielleicht gekränkt von seinem Mangel an Solidarität, an Feierlaune.
Er hält sich den Mantel am Hals zu, während er die Straße überquert. Von den Pflastersteinen steigt Dunst auf, hat die schenkelhohen Prellsteine und die Erdgeschossfenster schon verschluckt und leckt bald an den Ladenschildern, jenen Dingern aus Holz und Eisen – ein riesiger Handschuh, eine Pistole wie eine kleine Kanone, ein Federkiel, so groß wie ein Schwert –, die an Galgen über der Straße hängen. Er macht sich keine Sorgen. Er kennt sich recht gut aus, hat gelernt, sich im Viertel zurechtzufinden, aber vielleicht vergessen, dass eine Stadt bei Nacht nicht ganz derselbe Ort ist wie eine Stadt bei Tage. Außerdem lenken ihn seine Bemühungen ab, sich darüber schlüssig zu werden, was er davon hält, mit einem Topf Farbe durch die Straßen zu rennen. War es aufregend? Jetzt, da es vorbei ist, kann er sich eingestehen, dass es das war, ein bisschen jedenfalls. Aufregend, aber auch lästig, absurd und kindisch, denn was wird sich dadurch ändern, dass Männer durch die Stadt jagen und Parolen an die Wände malen? Dazu noch so eigenartige Männer. Sie haben etwas Sonderbares, etwas, womit er sich besser nicht gemein machen sollte, einen Zug von Verzweiflung. Erstaunlich, dass Armand sich mit solchen Leuten abgibt, obwohl das Ganze für ihn wahrscheinlich nichts weiter als ein Vorwand dafür ist, die ganze Nacht zu trinken. Die Frau war interessant, trotz ihrer Barschheit durchaus liebenswert. Die Kinder auch. Er hat ihre Gesellschaft genossen, die herzige Aufmerksamkeit, mit der sie ihm dabei zusahen, wie er ruhige Formen auf den Schiefer zeichnete.
Er bleibt stehen und blickt stirnrunzelnd in den Dunst. Er hätte mittlerweile in der Rue Saint-Denis, etwas oberhalb der Rue aux Fers, herauskommen müssen. Statt dessen ist er … wo? In einer Straße, die er überhaupt nicht kennt. Ist er zu weit nach Norden geraten? Er sucht nach einer Abzweigung nach links, geht, so kommt es ihm vor, gut einen halben Kilometer, ehe er eine findet, die brauchbar erscheint, biegt in sie ein, wird mit jedem Schritt ein wenig unsicherer, stellt sich vor, er ginge nicht durch das Herz von Paris, sondern durch die zerfurchten Gassen von Bellême, sieht dann, in der Luft über ihm aufragend, die Strebepfeiler einer Kirche, einer großen Kirche. Saint-Eustache? Der Dunst ist mittlerweile so dicht wie Rauch. Er geht langsam und vorsichtig weiter. Wenn es sich bei der Kirche tatsächlich um Saint-Eustache handelt, dann weiß er – theoretisch – genau, wo er ist, aber er fürchtet, sich erneut zu irren und sich den Rest der Nacht durch nicht zu erkennende Straßen zu schleppen, vorbei an Gebäuden wie vermurte Schiffe.
Vor ihm plötzlich das Geräusch von Schritten. Da draußen ist jemand, jemand, der sich, nach seinem raschen, leichten Gehtempo zu urteilen, seines Weges sehr sicher ist. Darin liegt nichts Unheimliches, jedenfalls nicht unmittelbar, doch die Angst in ihm wächst rasch. Was für ein Mensch ist in einer solchen Nacht zu einer solchen Stunde unterwegs? Kann es sein, dass man ihm gefolgt ist? Den ganzen Weg von der Porte Saint-Antoine bis hierher? Er wühlt in seinen Taschen nach etwas, womit er sich verteidigen könnte, findet aber nichts Gefährlicheres als einen der Friedhofsschlüssel. Es ist ohnehin zu spät. Das Dunstgewebe löst sich auf. Eine Form, ein Schatten, ein in einen Mantel gehüllter Schatten … Eine Frau! Eine in tiefe Träumerei versunkene Frau, denn sie ist nur noch einen knappen Meter von ihm enfernt, als sie zum Stehen kommt. Drei, vier Sekunden lang verharren sie in instinktiver Wachsamkeit; dann entspannt sich beider Haltung ein wenig. Er kennt sie. Eine Verwechslung ist nicht möglich. Der Mantel, die Größe, der feste Blick, der vom sonderbaren Schimmer des Dunstes erleuchtet wird, einem schwachen, bläulichen Licht, das von allem und nichts ausgeht. Ob sie sich an ihn erinnert? Er wüsste nicht, warum.
»Ich bin auf dem Heimweg«, sagt er leise, fast im Flüsterton. Sie nickt, wartet. Sie erinnert sich also doch an ihn!
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