Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
Er glaubt es jedenfalls. »Ich habe mich verlaufen.«
»In welcher Straße wohnen Sie denn?« fragt sie, ihre Stimme so leise wie seine.
»In der Rue de la Lingerie.«
»Am Friedhof.«
»Ja.«
»Das ist nicht weit«, sagt sie. »Sie können über den Markt gehen.« An seiner Schulter vorbei schaut sie in Richtung der Abzweigung, die er nehmen muss.
»Ich habe Sie schon einmal gesehen«, sagt er.
»Ja«, sagt sie.
»Sie erinnern sich?«
»Sie waren in Gesellschaft des Musikers.«
»Sie sind Héloïse«, sagt er.
»Man hat mir Ihren Namen nicht gesagt.«
»Bêche.«
» Bêche ?«
»Jean-Baptiste.«
Er macht einen Schritt auf sie zu. Dann, einen Herzschlag später, noch einen. Im Dunst vollkommen für sich, stehen sie da. Er hebt eine Hand und berührt sie an der Wange. Sie zuckt nicht zurück.
»Sie fürchten sich doch nicht vor mir?« fragt er.
»Nein«, sagt sie. »Sollte ich denn?«
»Nein. Es gibt keinen Grund.«
Seine Finger liegen auf ihrer Haut. Er könnte nicht sagen, was er da tut, was ihn dazu treibt, ihn, der so wenig Erfahrung mit Frauen hat. Ist es der Umstand, dass sie eine Hure ist, der ihn dazu veranlasst? Doch in dieser unverhofften Stunde sind Wörter wie Hure, wie Ingenieur, wie Héloïse oder Jean-Baptiste so leer wie ausgeblasene Eier.
»Ich biege also hier ab?« fragt er, während er jäh zur Besinnung kommt und seine Hand an seiner Seite herabsinkt.
»An der Ecke da«, sagt sie.
Er bedankt sich leise, entfernt sich von ihr. Er findet problemlos zum Markt. Der ist schon jetzt eine Stadt in der Stadt, voller hin- und herfliegender Scherzworte, getüpfelt mit Laternen und Binsenlichtern, obwohl noch zwei Stunden vergehen werden, bis die ersten Kunden kommen. Auf der anderen Seite, an der Ecke der Rue aux Fers, die schwarze Mauer des Friedhofs, die nebelfeuchten Pflastersteine der Rue de la Lingerie …
Als er die Haustür der Monnards öffnet, flitzt etwas vor ihm hinein. Er hantiert mit der Zunderbüchse auf dem Tisch im Flur, und es gelingt ihm schließlich, eine Kerze zu entzünden. Ragoût kauert an der Kellertür, das platte Gesicht an den unteren Türspalt gedrückt. Er blickt zu Jean-Baptiste auf, als hoffte er auf Hilfe. Jean-Baptiste langt nach unten, spürt die durch den Spalt strömende Luft, kalte Luft, kalt wie der Atem eines Menschen im letzten Stadium eines Fiebers. Er stellt die Kerze auf die Diele neben der Tür. Sofort wird die Flamme schwächer, und bevor er die Kerze wieder hochheben kann, erlischt sie.
12
FÜR DEN REST der Nacht liegt er wach, das Innere seines Kopfes leuchtend von der Klarheit, die Schlaflosigkeit und Fusel hervorbringen. Immer wieder ruft er sich seine Begegnung mit der Frau, mit Héloïse, ins Gedächtnis, bis die ganze Szene undurchdringlich wird und er in einen anderen, leicht tranceartigen Zustand eintritt, in dem er zusieht, wie die Kellertür langsam aufgeht und er selbst den Fuß wie unter Zwang auf die erste Stufe der Kellertreppe setzt, einer Treppe, die er noch nie gesehen hat …
Beim ersten Tageslicht zieht er sich an. Zweimal wischt er mit der Hand über den Spiegel, ehe ihm aufgeht, dass die schwarzen Flecken auf seinem Gesicht und nicht auf dem Glas sind, seine Belohnung dafür, dass er Monsieur Renard den Farbtopf gehalten hat. Er hat kein Waschwasser. Er flucht und schleicht sich aus dem Haus.
Er ist der letzte, der in der Rue aux Ours in die Kutsche einsteigt. Er klettert hoch und setzt sich einem silberhaarigen Priester gegenüber. Neben dem Priester (der unter seinem Umhang sachte seinen offenbar verstimmten Magen abtastet) sitzt ein ausländisches Paar, Engländer, wie sich herausstellt, die Frau gepflegt, solide gekleidet, voller Behagen – wie ein aufgeplustertes Huhn; der Mann mit rotem Gesicht, groß und dick wie ein alter Preisboxer. Der letzte Fahrgast ist eine Frau, eine jener eleganten, geheimnisvoll traurigen Frauen eines bestimmten Alters, die ohne Begleitung mit den öffentlichen Kutschen reisen und sofort im Mittelpunkt aller möglichen Spekulationen von seiten der anderen Fahrgäste stehen. Sie schaut aus dem Fenster wie in schmachtender Hoffnung, dass irgendeine Gestalt, jemand wie Louis Horatio Boyer-Duboisson, zwischen den Nebelfetzen der vergangenen Nacht hervorgeritten käme und sie zu bleiben bäte. Niemand kommt.
In der Tür des Postunternehmens nimmt der Kutscher seinen Morgenschluck. Das englische Paar teilt sich ein gekochtes Ei. Der Priester liest in einem kleinen Buch, die Seiten
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