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Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Titel: Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Miller
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berühren fast seine Nasenspitze. Die elegante Frau seufzt. Jean-Baptiste – der seit dem Huhn am vergangenen Abend nichts mehr gegessen hat – schließt die Augen und schläft so fest ein, dass er nichts mehr wahrnimmt, bis er drei Stunden später abrupt aufwacht und durch schlammbespritzte Fenster die Winterlandschaft vorbeiziehen sieht, denn Paris liegt schon viele Kilometer hinter ihnen. Die Engländerin lächelt ihn an, nickt ihm zu. Ihr Mann und der Priester sitzen nebeneinander und schnarchen, jeder in seinem eigenen Rhythmus.
    Sie kommen zu einer Steigung. Die Pferde legen sich ins Zeug. Der Kutscher späht durch die Klappe im Kutschendach und fragt, ob es den Herren etwas ausmachen würde, den Hügel zu Fuß hinaufzugehen. Die Herren kommen der Bitte nach, suchen sich einen Weg durch den Schlamm und machen dabei Bemerkungen zum Charakter der schlammfarbenen Landschaft zu beiden Seiten. Auf der Hügelkuppe steigen sie wieder in die Kutsche, verteilen ihren Schlamm auf dem Boden und klammern sich dann an die Halteriemen, während die Kutsche den langen, rutschigen Weg ins nächste Dorf hinunterfährt, wo zur allgemeinen Erleichterung zum Mittagessen Halt gemacht wird.
    Am Nachmittag – alle haben zum Essen eine ganze Menge Weißwein getrunken – gibt es eine Stunde harmloser Konversation, gefolgt von einer Stunde Schlaf, während die Kutsche wie ein Boot schaukelt und die Welt draußen vorbeizieht, unbetrachtet und namenlos.
    Zwei Stunden nach Einbruch der Dunkelheit erreichen sie Amiens; sie fahren durch eines der alten Stadttore hinein und recken den Hals, um einen flüchtigen Blick auf den Schatten der Kathedrale zu erhaschen. Im Wirtshaus ist eine größere Gruppe Pilger abgestiegen. Die Neuankömmlinge müssen sich mit dem noch vorhandenen Platz begnügen. Jean-Baptiste teilt sich mit dem Priester ein Bett auf dem Dachboden und wird vor dem Löschen der Kerze aufgefordert, mit ihm zusammen zu beten. Er möchte nicht beten, würde am liebsten verkünden, er sei Philosoph, Rationalist, Freidenker, schließt sich dann aber aus Höflichkeit den Amen des Priesters an und spürt den alten Trost, der daraus erwächst. Sie geben einander die Hand und löschen die Kerze. Im Magen des Priesters rumort es. Er entschuldigt sich. Jean-Baptiste versichert ihm, dass es ihn nicht stört.
    Als er am Morgen erwacht, ruht sein Kopf an der Schulter des Priesters. Sie setzen sich im Bett auf, geben einander erneut die Hand. So ist das Leben; so ist das Reisen.
    Eine neue Kutsche, ein neuer Kutscher, frische Pferde. Am frühen Nachmittag erreichen sie Douai. Hier trennt sich die Reisegesellschaft. Der alte Priester wird von jungen Priestern aus dem Seminar abgeholt, das englische Paar geht über den Hof zur wartenden Kutsche nach Calais, die traurige, elegante Frau erkundigt sich in gedämpftem Ton nach dem nächsten Beförderungsmittel nach Brüssel. Jean-Baptiste, der eine kleine Reisetasche umklammert hält, wird in einen überfüllten Kasten mit Ziel Valenciennes gescheucht. Zwei Stunden später steigt er, steif vor Kälte, in der Rue de Paris aus. Zwischen der Stadt und den Bergwerken herrscht immer Verkehr. Er bezahlt zehn Sous für eine Mitfahrgelegenheit auf einem Karren, der Fässer mit ranzig riechender Butter transportiert, und sie erreichen den Rand der Bergarbeiterkolonie, als hinter ihnen gerade das Tageslicht schwindet.
    Selbst in der Düsternis ist offensichtlich, dass Lecoeur recht hatte: Seit Jean-Baptiste zuletzt hier war, hat sich nicht viel geändert. Dieselbe dicke Kruste aus Hütten und Verschlägen, wie das Feldlager einer Belagerungsarmee, einer, die verbissen weitermacht, ohne im geringsten an den Sieg zu glauben. Es brennen viele kleine Feuer, jedes von einer Gruppe als Silhouetten sichtbarer Männer und Frauen umstanden. An den Rändern der Straße spielen apathische Kinder, einige halten inne, um blass und ohne Neugier zu dem vorbeifahrenden Wagen aufzublicken. Die Straßen sind von der Bergbaugesellschaft gebaut worden. Die ersten haben noch Namen wie Avenue de Charbon, Avenue de l’Avenir, sogar Avenue de Richesse bekommen, spätere dann nur noch Nummern: Rue 1, Rue 2. Im Zentrum des Ganzen, erkennbar als dunklere, dichtere Zone von Qualm und gedämpftem Lärm, liegen die eigentlichen Bergwerke.
    Die Aufseher haben ihr eigenes Lager ein wenig östlich von den Bergwerken. Dauernd herrscht Wind, der ständig Ruß und Steinstaub heranweht. Das Lager mutet wie eine Provinzkaserne an, jede

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