Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
Ausgrabungen zu konstruieren – er selbst auf einer Art Podium oder Gerüst, die Männer mit ihren Werkzeugen in ordentlichen Reihen unter ihm –, als Lecoeur plötzlich fragt: »Bist du verheiratet?«
»Nein«, sagt Jean-Baptiste, dem – absurderweise! – der Schatten von Héloïse, der Hure Héloïse, in den Sinn kommt.
»Das dachte ich mir schon«, sagt Lecoeur. »Ein verheirateter Mann trägt keinen solchen Anzug.«
»Und du?« fragt Jean-Baptiste. »Gibt es bei dir irgendeine … Verbindung?«
Lecoeur lächelt, schüttelt den Kopf, schaut ins Feuer. »Ich habe schon lange nicht mehr mit Frauen zu tun gehabt.«
Am Morgen läutet die Glocke um halb vier. Die erste Schicht, die erste Einfahrt beginnt um vier. Jean-Baptiste erwacht in dem Zimmer im ersten Stock. Er blickt in Richtung Fenster, aber es ist keine Spur von Licht zu sehen. Er schwingt die Beine aus dem Bett. Im Zimmer ist es lachhaft kalt. Er erinnert sich noch an alles, in aller Deutlichkeit.
Im Wohnzimmer findet er Lecoeur vor, voll bekleidet, das Gesicht eine Maske der Konzentration, während er beide Hände benutzt, um sich ein Glas aus der mittlerweile fast leeren Flasche einzugießen. Er stellt die Flasche ab, legt dann den Mund an den Rand des noch auf dem Tisch stehenden Glases und schlürft den ersten Schluck.
»Soll ich dir auch eines eingießen?« fragt er.
»Später vielleicht«, sagt Jean-Baptiste.
Am Vorabend haben sie noch ein wenig über den Plan für den Friedhof gesprochen, über die Männer, die gebraucht werden. Lecoeur war auf beruhigende Weise geschäftsmäßig. Er hatte eine Namensliste angefertigt und lieferte, während er sie durchging (Everbout, Slabbart, Block, Rape, Cent, Wyntère …), Jean-Baptiste eine kurze Einschätzung jedes einzelnen: ungefähres Alter, Beschäftigungsdauer, moralischer Charakter, soweit bekannt oder in Erfahrung zu bringen. Es war keine Rede davon, seinen Namen auch auf die Liste zu setzen, doch nun, im schneekalten Wohnzimmer, fragt Jean-Baptiste, ob er es in Erwägung ziehen würde.
» In Erwägung ziehen !«
In seiner Hast, seinen Freund an den Händen zu fassen, stößt Lecoeur mit dem Schenkel an die Ecke des Tisches und wirft beinahe die kostbare Flasche um.
»Sie werden Plätze nach uns benennen!« ruft er. »Die Männer, die Paris gereinigt haben!«
Er vollführt einen kleinen Freudentanz; er kann nicht anders. Jean-Baptiste lacht, klatscht den Takt. Heute hat er ein Leben gerettet, und das schon vor dem Frühstück.
Nachdem sie zu der früheren Form des intensiven Gesprächs, den Wortgefechten aus den Tagen von Valenciana, zurückgefunden haben, besprechen sie die Vorbereitungen, die sie treffen müssen. Die Beförderung der Männer, ihre Unterkunft in Paris. Hygiene, Disziplin, Bezahlung. Alle denkbaren Probleme, von schlechtem Wetter bis hin zu Angst vor Gespenstern.
»Und dieser Ort«, fragt Lecoeur, »wo die Überreste hingebracht werden …?«
»Ein alter Steinbruch.«
»Die Vorbereitungen sind abgeschlossen?«
»Sie werden es in Kürze sein.«
»Ist er auch trocken? Wir benutzen hier eine neue Pumpe englischer Bauart. Viel schneller als alles, was wir vorher eingesetzt haben.«
»In meine Veranwortung fällt nur der Friedhof. Sobald die Karren ihn verlassen haben …«
»Wie tief müssen wir graben?«
»Es heißt, einige Armengräber seien dreißig Meter tief.«
»So tief?«
»Die meisten sind hoffentlich weniger tief, aber für die Männer wird es keine schöne Arbeit.«
»Es kann auch nicht schlimmer sein«, sagt Lecoeur, »als mit einer Spitzhacke in die Erde zu kriechen und nicht zu wissen, wann man vielleicht in böses Wetter gerät oder der Schacht hinter einem einstürzt. Letzte Woche haben wir drei Mann verloren. Lebendig begraben. Sie steifen die Schächte nicht richtig ab, weil sie wissen, dass sie dafür nicht bezahlt werden. Nur für Kohle.«
Vor dem Fenster scheint der Tag nicht heller zu werden. Wieder schlagen dünne Schneeböen gegen das Glas. Jean-Baptiste rafft sich auf. Er hat nicht vor, hier Wurzeln zu schlagen.
»Ich lasse dir Geld da. Benutze es nach eigenem Gutdünken. Und du kannst dich auf den Minister berufen, wo es erforderlich ist. Aber alles muss unverzüglich geschehen. Wenn wir trödeln, hat man mir versichert, wird keiner von uns mehr gebraucht. In diesem Punkt hat man sich unmissverständlich geäußert.«
» Amicus certus in re incerta cernitur « , sagt Lecoeur grinsend und reibt sich die Hände. »Möchtest du jetzt
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