Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
Ithaka Ausschau hält.
Die Straßen sind Gott sei Dank passierbar. Der Schnee von letzter Woche ist geschmolzen, und das neue Wetter – eine tiefstehende, eisige Sonne, nachts klirrendkalte Luft – hat den Schlamm in Stein verwandelt.
Er hat zweimal die Kutsche gewechselt. Der Fahrer der jetzigen ist besorgniserregend betrunken, aber die Pferde kennen den Weg. Jean-Baptiste blickt hinaus auf die Wand eines Waldes, ärgert sich, als sie von einer Schar Gänse aufgehalten werden, die ein verträumtes Mädchen mit einem Stock die Straße entlangtreibt. Dann ein letzter Hügel, ein im Nachmittagslicht violetter Kirchturm und die Stimme des Kutschers, die »Bellême! Bellême!« ruft.
Er steigt auf dem Marktplatz aus. Man schnallt seine Tasche los und lässt sie ihm in die Arme fallen. Wie immer steht in der Nähe ein kleines Grüppchen Einwohner und sieht mit verschränkten Armen zu. In Bellême wird die Neugier nie aus der Mode kommen. Eine aus dem Kreis der Beobachter, eine Witwe, die mit Heilmitteln gegen Zahnschmerzen, Lähmung, nässende Geschwüre, Veitstanz und allerlei andere Leiden und Gebrechen handelt, erkennt ihn, und er unterhält sich mit ihr und erfährt vom Tod von zwei, drei Menschen, deren Namen er kennt, von der Heirat eines einheimischen Mädchens mit einem Tuchscherer aus Mamers, von einem Mann, der beim Wildern auf dem Besitz des Kardinals ertappt und zur Aburteilung nach Nogent geschickt worden ist. Niemand, so scheint es, verdient Geld. Der Boden bringt nur Steine hervor. Und dennoch kommen alle irgendwie zurecht, die Kirchenglocke wird gerade repariert, und nächstes Jahr wird Gott ihnen ein besseres Jahr bescheren, denn es sind keine schlechten Menschen und ihre Sünden sind gering.
»Und was ist mir dir?« fragt sie, als sie endlich Atem holt. »Bist du irgendwo gewesen?«
Er hat noch ein ganzes Stück zurückzulegen. Er schultert seine Tasche, marschiert den Hügel hinunter, überquert auf den Trittsteinen den Bach und geht wachsam über die Ecke einer Wiese, auf der er einmal von einem weißen Stier verfolgt worden ist. Aus den Wäldern seitlich von ihm dringt der Rauchgeruch von den Feuern der Köhler, jener geheimnisvollen Menschen, die nur sich selbst gehören, dann kommt er an der Stechpalme vorbei – die in diesem Jahr üppig trägt –, überquert das Feld, hört, wie die Hunde anfangen zu bellen, und da ist das Haus, der Hof, da sind die notdürftig reparierten Nebengebäude, Stein und Schlamm von Zuhause allesamt da, wo sie sein sollen, sein müssen und dennoch zugleich allesamt irgendwie überraschend. Er beschleunigt seinen Schritt; eine Gestalt erscheint in der Tür. Er hebt einen Arm; sie hebt ihren. Auf den letzten Minuten seines Wegs wird er von ihr beobachtet. Es ist, als wäre ihr Blick der Pfad, den er entlanggeht, als würde er an dessen Ende geradewegs in ihre grauen Augen hineingehen.
Nachdem sie einander begrüßt haben, setzt er sich ans Feuer, hält die Hände in die Wärme. Es gibt einen Augenblick, eine kurze Spanne von Sekunden, in der er einfach nur überglücklich und nichts auf der Welt komplizierter ist als ein Bild in einem Kinderbuch. Er ist zu Hause! Endlich zu Hause! Und dann geht der Augenblick vorüber.
Seine Mutter macht alles mögliche für ihn, bringt ihm alles mögliche, stellt ihm Fragen, bedankt sich für das Geld, das er geschickt hat. Sie sieht, findet er, um Augen und Mund etwas verhärmt aus. Und schaut unter ihrer leinenen Haube nicht mehr Grau als früher hervor? Er würde sie gern fragen, ob es ihr gutgeht, aber sie würde nur lächeln und sagen, es gehe ihr recht gut. Leiden ist eine Gottesgabe. Nichts, worüber man sich beklagt.
Seine Schwester kommt herein, Henriette, die kalten Hände in die Achselhöhlen gesteckt. Sie war in der Milchkammer und riecht wie eine Amme. Sie will, sagt sie, alles wissen. Ihr Interesse schmeichelt ihm, und überrascht hört er sich reden, hört, wie flüssig er die jüngste Vergangenheit umgestaltet. Wenn man ihm zuhört, könnte man meinen, er und der Minister verbrächten ihre Vormittage mit gemeinsamen Spaziergängen zwischen den Brunnen im Park von Versailles. Die Monnards werden zu einer einfachen, bürgerlichen Familie, liebenswert und unbescholten, während Armand genau die Sorte von Gefährte ist, die seine Mutter – die sich stets gesorgt hat, dass er einsam sein wird – ihm wünschen würde, einer, von dem man niemals vermuten würde, dass er in einem eheähnlichen Verhältnis mit
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