Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
außer einem hässlichen Fleck verfärbter Haut und, aus diesem hervorstehend wie ein einzelnes dickes Haar, ein Stück schwarzen Faden sehen.
Er sucht nach seinen Kleidern, dem Arbeitsanzug, den er an dem Tag getragen hat, an dem Ziguette Monnard nachts in sein Zimmer gekommen ist, um ihn zu ermorden. Er kann ihn nicht sehen. Er ist entweder aufgeräumt oder weggenommen worden. Ruiniert? Mit seinem Blut bespritzt, mit Blut von der Waffe, dem Ding, dem Metallding, dessen Namen (ein Funke von Panik in seiner Brust) ihm ebenfalls abhanden gekommen ist? Wie kann man überhaupt denken, wenn einem die Wörter zum Denken fehlen? Woran kann man sich orientieren, wenn nicht an den Wörtern?
Er geht zu seiner Truhe, klappt den Deckel auf. Der Schock der Farbe, des von der Farbe reflektierten Lichts, lässt ihn zusammenfahren, doch zu seiner Erleichterung hört er »grün« in seinem Kopf und »Seide« und sogar »pistazienfarben«. Er trägt den Anzug zum Bett, legt ihn dort ab, betrachtet ihn eine Weile, quält sich dann hinein. Dann ist das eben die Antwort. Er wird einfach der Welt folgen. Die Welt, die Dinge der Welt werden ihm soufflieren. Er wird tun, was sie sagen. Ob er sie benennen kann oder nicht, wird keine Rolle spielen. Er wird einem Kind gleichen, das einem Ball nachläuft, der eine Treppe hinunterhüpft. Vielleicht hat er das ja schon immer getan. Er kann sich nicht recht erinnern.
Als er angezogen ist, sucht er den Hausrock, den Tarbusch, die Mietperücke, das Papier zusammen, in das alles eingeschlagen war, und schlägt es wieder ein, ein großes, unhandliches Paket. Er zieht seine Schuhe, seinen Reitmantel an. Mit zusammengebissenen Zähnen setzt er sich seinen Hut auf, als könnte schon ein Schatten Druck auf die Wunde ausüben. Er geht nach unten. Niemand sieht ihn. Die Küchentür steht offen, aber der Raum ist leer. Er wirft einen Blick auf die Kellertür, widersteht der Versuchung, die Klinke zu drücken, öffnet die Haustür, kneift zum Schutz gegen das Licht die Augen zusammen, bleibt eine volle Minute mit dem Rücken zur Hauswand stehen und sammelt Energie, Mut, was auch immer er brauchen wird, um weiterzugehen. Er fürchtet, erkannt, aufgehalten, angesprochen zu werden. Er nimmt an, dass bereits irgendeine Version der Geschichte in Umlauf ist, dass er inzwischen nicht mehr bloß der Ingenieur ist, sondern der Mann, den die kleine Monnard angegriffen hat, der Mann, der sie auf irgendeine Weise provoziert haben muss. Er sieht zwei Jungen die Straße heraufkommen, sie treiben mit einer Peitsche ein Spielzeug vor sich her, einen Holzreifen. Er lässt sie vorbei, dann stößt er sich von der Wand ab, setzt sich in Marsch.
Bei Gaudet lässt er sich rasieren. Er ist der einzige Kunde. Als er hereinkommt, sitzt der Barbier auf seinem Stuhl, liest den Mercure de France und knabbert dabei an einem Fingernagel. Die Rasur ist schlichtes, sinnliches Vergnügen. Von der Wunde ist natürlich keine Rede, obwohl Gaudet reichlich Zeit hat, sie zu studieren. Statt dessen spricht der Barbier von der Stadt, vom Viertel, davon, was alles kostet, von den jüngsten Arbeitsverweigerungen. Nichts davon erfordert irgendeinen Kommentar von Jean-Baptiste. Er lässt den Mann plappern, lässt ihn arbeiten, ist ihm dankbar.
»Ich bin eine Zeitlang krank gewesen«, sagt er schließlich.
»Aber jetzt sind Sie wieder gesund«, sagt Gaudet, während er dem Ingenieur die braunen und die kurzen grauen Haare von den Schultern bürstet. »Bald werden Sie wieder ganz der alte sein.«
»Meinen Sie?«
Der Barbier grinst ihn durch das Medium des Spiegels an, zuckt elegant die Achseln und klappt das scharfe Ding, das glänzende Ding in den gebogenen Griff ein.
Das Paket in den Armen, die kalte Luft prickelnd auf Kinn und Wangen, geht er am Haus der Ostindienkompanie vorbei die Rue des Bons-Enfants hinauf bis zur Place des Victoires. Nach zwei Wochen Bettlägerigkeit hätte der Fußmarsch ihn eigentlich völlig erschöpfen müssen; statt dessen scheint er ihn ein wenig zu stärken. Er erinnert sich gut an die Adresse, zu der er will. Mit der Schulter drückt er die Tür auf. Eine Glocke klingelt. In seinen Samtschuhen überquert Charvet den polierten Fußboden. Er bleibt stehen, hebt seine kleinen Augenbrauen und verneigt sich dann steif aus der Hüfte.
»Monsieur l’Ingénieur, nicht wahr?«
An der Tür steht ein Stuhl. Jean-Baptiste legt sein Paket auf die Sitzfläche. Es beginnt sich von selbst zu öffnet, als enthielte es etwas
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