Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
des Ingenieurs, in den er knapp unterhalb des Ellbogens einsticht. »Keine Sorge«, sagt er, »es wird nicht viel brauchen.«
»Wo ist sie?«
»Das Mädchen, das Sie angegriffen hat?«
»Keiner will mir sagen, wo sie ist.«
»Bis vor zwei Tagen war sie noch hier im Haus. Inzwischen hat man sie fortgeschickt. Zu älteren Verwandten im Dauphiné. Streng religiöse Menschen. Ich hoffe, Sie haben keine Einwände, aber ich habe dem Vorhaben meinen Segen gegeben. Es gibt kein wirksameres Mittel gegen die Heißblütigkeit einer jungen Frau, als ein, zwei Jahre lang in einem kalten Haus in einer entlegenen Provinz Novenen zu beten. Ich bin davon ausgegangen, dass Sie nicht den Wunsch haben, sie zu belangen. Ein Mann, der eine Frau unter solchen Umständen belangt, würde sich nur lächerlich machen. Wären Sie Ihrer Verletzung erlegen, könnte die Angelegenheit natürlich nicht auf rein privatem Weg geklärt werden. Waren Sie beide ein Liebespaar?«
»Nein.«
»Ich werde Ihnen glauben«, sagt der Arzt, knüllt ein Stück Mull zusammen, drückt es auf den Einstich und beugt behutsam den Arm seines Patienten. »Aber wenn es nicht Liebe oder Eifersucht oder Verlangen war, was, glauben Sie, hat sie dann veranlasst, in Ihr Zimmer zu gehen und zu versuchen, Ihnen den Schädel zu spalten?«
»Les Innocents.«
»Der Friedhof? Sie wollte Sie daran hindern, ihn zu zerstören? Dann ist sie vielleicht noch wahnsinniger, als ich dachte. Wir wollen hoffen, dass sie ihre Verwandten im Dauphiné nicht hinschlachtet. Man würde sich ja doch in gewisser Weise verantwortlich fühlen.«
»Wie lange ist das Ganze her?«
»Der Angriff? Zwei Wochen. Etwas mehr.«
»Ich muss die Arbeit wiederaufnehmen.«
»Ein Monat in der guten Luft der Normandie wäre ein besseres Rezept.«
»Ich bin gesund genug.«
»Sie haben einen sehr kräftigen Schlag auf den Kopf bekommen. Die Auswirkungen eines solchen Schlags sind ebenso unvorhersehbar wie von langer Dauer. Ist Ihnen irgend etwas Ungewöhnliches aufgefallen? Halluzinationen? Erinnerungslücken?«
»Nichts«, lügt Jean-Baptiste.
Der Arzt wischt die Klinge seiner Lanzette ab. »Wenn das so ist«, sagt er, »wie wäre es dann, wenn wir morgen versuchten, Sie ins Wohnzimmer hinunterzubringen? Die Monnards werden zweifellos bestrebt sein, Ihnen jeden Komfort angedeihen zu lassen.« Er grinst. »In der Zwischenzeit kann Ihnen der Comte de Buffon Gesellschaft leisten.« Er nimmt das Buch vom Tisch, lässt es auf die Bettdecke fallen. »Ihnen ist doch klar, dass es davon noch weitere dreißig Bände gibt?«
Als der Arzt gegangen ist, sieht Jean-Baptiste das Buch an und schlägt es einen Augenblick später auf. Es ist nicht das erstemal seit dem Angriff, dass er es versucht hat. Er schließt die Augen, macht sie auf, sammelt sich, die Maschine seiner Konzentration, die ihm früher so gute Dienste geleistet hat. Er legt einen Finger oben links auf die linke Seite. Die ersten vier Worte bieten keine Schwierigkeit: »Wir wollen nun bedenken …« Das nächste Wort kann er nicht lesen. Das nächste, glaubt er, ist »Beispiel«. Das nächste ist nichts als eine Form, so bedeutungslos wie ein Tintenfleck. Ebenso das danach und das nächste danach. Und es sind nicht nur Wörter in Büchern, sondern auch die Wörter in seinem Kopf, die verschwunden sind. Namen von Dingen, ganz gewöhnlichen Dingen, Gegenständen, die ein Kind benennen könnte. Wie und .
Und wenn das, diese Blindheit, allgemein bekannt würde? Wenn Lafosse und dann der Minister dahinterkommen, was dann? Wer auf der Welt würde einen solchen Mann einstellen, und sei es auch nur, um einen Friedhof zu zerstören? Er klappt das Buch zu, lässt es auf den Boden fallen, wälzt sich aus dem Bett, stellt sich versuchsweise hin, wartet darauf, dass sein Blutkreislauf sich dem anpasst, dann schlurft er zum Spiegel. Er hat eine Nachtmütze auf dem Kopf, darunter irgendeinen Verband. Er sieht – ja wie? – albern, heiligmäßig und leicht beängstigend aus. Er befingert die Haare an seinem Kinn, betastet seinen Schädel, als wäre er eine Eierschale und jede heftige Bewegung könnte sie durchstoßen, ein Loch machen, durch das der Dotter seines Gehirns ausliefe …
Er braucht zwanzig Minuten, um sich vorsichtig die Nachtmütze und dann den Verband mit der feuchten, rosafarbenen Unterseite abzustreifen. Man hat ihm die Haare gestutzt, zu einer groben Tonsur geschnitten, doch wie er den Kopf auch dreht, von der Wunde kann er fast nichts
Weitere Kostenlose Bücher