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Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Titel: Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Miller
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Der Arzt beginnt mit seiner Arbeit.
     
    Die ersten achtundvierzig Stunden besteht Gefahr, große Gefahr. Falls das Gehirn blutet, nun, da ließe sich vielleicht etwas machen – in der Rue Saint-Honoré gibt es einen Chirurgen mit einem feinen Bohrer, aber könnte man ihn rechtzeitig holen? Der Patient wird ständig beobachtet. Marie, Jeanne, Lisa Saget, Armand, Lecoeur. Guillotin schaut jeden Morgen und dann noch einmal am frühen Abend vorbei. Er steht vor seinem Patienten, wägt die Chancen ab, blickt dann hinaus auf die Kirche Les Innocents, denkt große Gedanken über die Menschen, ihre Köpfe, ihre Herzen, den Lauf der Welt. Der alten Welt und der, die vielleicht kommen wird.
     
    Obwohl er dauernd beobachtet wird, könnte der Ingenieur, als er endlich die Augen aufschlägt, schwören, dass das Zimmer leer ist. Sein Kopf auf dem Kissen ist ein totes Gewicht, eine am Halsstumpf festgenähte Faust aus lebendigem Knorpel. Der Schmerz sitzt nicht an der Oberfläche, sondern ist in den weißen Tiefen seines Gehirns vergraben. Sein Rhythmus ist der Rhythmus seines Blutes. Bei jedem Herzschlag zuckt er zusammen. Die Tür bewegt sich. Madame Monnard lugt herein. Als sie sieht, dass seine Augen offen sind, dass er sie offensichtlich ansieht, flieht sie.
     
    »Wer bin ich?«
    »Sie? Sie sind der Arzt.«
    »Und ich heiße?«
    »Guillotin.«
    »Gut. Und Sie?«
    »Baratte.«
    »Und unser König heißt?«
    »Louis.«
    »Erinnern Sie sich, was Ihnen zugestoßen ist?«
    »An einiges.«
    »Einiges?«
    »Genug.«
     
    »Monsieur Lafosse, der Beauftragte des Ministers, hat uns aufgesucht«, sagt Lecoeur. (Wie viele Stunden sind vergangen? Wie viele Tage?) »Ich glaube, Dr. Gullotin hat ihm von deinem … Missgeschick erzählt. Er hat mich angewiesen, die Arbeit voranzutreiben. Es gehe nicht an, die Männer unbeschäftigt zu lassen. Zeit sei Geld.«
    »Ziguette?« murmelt Jean-Baptiste, allerdings zu leise.
    »Und sieh doch«, sagt Lecoeur, »Jeanne hat dir eine Arznei geschickt. Irgendwelche Kräuter, glaube ich.« Er hält ihm das Fläschchen hin. Seine Hände tragen ein hartnäckiges Gesprenkel schwarzer Flecken, schwarzer Farbe.
    »Vermutlich ein Liebestrank«, sagt Armand, der sich ebenfalls im Zimmer aufhält, allerdings nicht im Blickfeld des Ingenieurs.
    »Welcher Tag ist heute?« fragt der Patient.
    »Welcher Tag?« sagt Lecoeur. »Es ist Mittwoch. Mittwoch morgen.«
     
    Marie sitzt auf einem Stuhl am Bett und macht etwas mit dem Feuer. Er möchte den Kopf nicht bewegen, um zu erkennen, was sie tut. Jede rasche Kopfbewegung bringt die Welt zum Zittern und Wackeln. »Ziguette?« fragt er.
    »Wieso?« sagt sie. »Haben Sie Angst, dass sie Sie noch einmal besuchen kommt?« Dann, als er ihr keine Antwort gibt, sagt sie: »Ich war es, die Sie gerettet hat.«
     
    Das Licht ist ein weißes Laken an seinem Fenster, ein mattweißes Laken, das jeden Abend zusammengefaltet und beim nächsten Morgengrauen wieder aufgehängt wird. Man beobachtet ihn nicht mehr die ganze Zeit. Als er unbeobachtet ist, stiehlt er sich aus dem Bett, sitzt zehn Minuten auf dem Stuhl und klammert sich dabei an die Sitzfläche. Am folgenden Tag sitzt er eine halbe Stunde lang darauf. Das Sitzen wird zu seiner Übung. Manchmal, wenn ihn das Mitleid packt – mit sich selbst, mit seinem tyrannischen Vater, dem desolaten Schicksal von Fremden, den kalten Gebeinen auf dem Friedhof –, bildet sein Mund seltsame Formen, eine Art trockenes Weinen. Dann wieder ist er empfindungslos, ruhig und vollkommen empfindungslos, bis die Rauheit der Welt, sein eigener Atem, die kalte Luft ihn wieder aufstören. Er mustert seine Hände, betrachtet das Feuer, schaut fragend das Bild von der Brücke an. Er hebt den Blick zum Fenster: Die Wolken haben die gleiche Farbe wie das Meer bei Dieppe. Wer sind Sie? hat der Arzt gefragt. Er ist Adam, allein im Garten Eden. Er ist ein aus seinem Grab aufgescheuchter Lazarus, bei dem das eine Leben durch eine Spanne von Dunkelheit vom anderen getrennt ist.
     
    Guillotin kommt, um ihn zur Ader zu lassen; die Phlebotomie ist in solchen Fällen eine übliche Vorsichtsmaßnahme. Zuerst nimmt er wie gewöhnlich eine Untersuchung der Wunde vor. »Ihr Leute aus der Normandie habt einen schön dicken Schädel«, sagt er. »Sie möchten mir nicht zufällig Ihren Kopf vermachen, oder?«
    »Was bringt Sie auf den Gedanken, dass Sie mich überleben werden?«
    »Ihr Frauengeschmack«, sagt der Arzt und richtet sein Augenmerk auf den rechten Arm

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