Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
hinter ihm, eines dieser vorzeitig gealterten Marktweiber mit einer Figur wie ein Heringsfass, ihn ganz deutlich gehört hat und ihn, den klagenden, heiseren Ton, überraschend gut nachäfft: »Oh, HELO-ISE! «
Er blickt sich eher verwirrt als wütend zu ihr um. Wer ist sie? Kennt er sie?
»Eh, kleine Königin!« ruft eine andere Frau, Schwestergeschöpf der ersten. »Siehst du nicht, dass der feine Herr was von dir will?«
Aber sie hat sie immer noch nicht gehört, starrt immer noch in das Ladenfenster, ohne die Szene wahrzunehmen, die ihr die Straße entlang immer näher rückt.
»Sie will ihren Korbmacher nicht eifersüchtig machen«, sagt eine dritte. »Oder den alten Buchhändler. Oder deinen eigenen Alten!«
»Wenn mein Alter sie auch nur ansähe, würde ich ihm seine Eier zum Abendessen vorsetzen.«
Jetzt dreht sie sich um, sieht ihnen entgegen, weicht nicht von der Stelle, während sie näher kommen. Was auch immer sie empfindet – Zorn, Angst, Verblüffung –, sie achtet darauf, sich nichts davon anmerken zu lassen. Der Ingenieur bleibt anderthalb, vielleicht zwei Meter vor ihr stehen.
»Ihm hat’s die Sprache verschlagen«, sagt die erste Frau.
»Er will ja auch nicht mit ihr reden «, sagt die zweite und lacht über ihren eigenen Witz.
» Der ist das«, sagt eine Männerstimme; sie gehört zu einem zottigen Kopf, der sich aus dem Fenster eines unbeleuchteten Zimmers im Haus neben dem Laden beugt. »Der den Friedhof aufgräbt.«
»Bist du sicher?«
»Und ob ich sicher bin. Schau ihn dir doch an.«
»Wahrscheinlich will er auch ein bisschen was von dem, was seine Arbeiter kriegen«, sagt eine andere Stimme, die einer Frau, jünger als die anderen.
»Ich habe nach Ihnen gesucht«, sagt Jean-Baptiste zu Héloïse. »Ich wollte … mit Ihnen sprechen.« Als das Wort »sprechen« fällt, brechen die Umstehenden in entzücktes Gelächter aus.
»Du musst ihr zeigen, welche Farbe dein Geld hat, Schätzchen. Der Arme. Bestimmt ist ihm das alles neu.«
»Und was ist mit der kleinen Monnard?« fragt die jüngere Stimme. »Die magst du jetzt nicht mehr, was?«
Héloïse, die ihren Blick kein einziges Mal auf jemand anderen als den Ingenieur gerichtet hat, gesteht ihm nun vier, fünf Sekunden zu, in denen er alles richtigstellen kann. Er holt Luft; er runzelt die Stirn; er macht den Mund auf. »Hüte«, sagt er. »Wie habe ich Hüte vergessen können?«
Sie nickt fast unmerklich; dann, als hätte nichts von alldem irgend etwas mit ihr zu tun, als wäre es bloß irgendein Unsinn, auf den sie zufällig gestoßen wäre und an dem sie nun jedes Interesse verloren hätte, wendet sie sich ganz gelassen ab und setzt ihren Weg die Straße entlang fort.
Der Mann im Fenster beugt sich weiter vor. »Hüte!« schreit er. »Habt ihr das gehört? ›Hüte‹, hat er gesagt! Hüte!«
Von der Stelle aus, wo Jean-Baptiste steht, sind es nur ein, zwei Schritte bis zu dem Fenster. Er geht hin, geht rasch, ehe der Mann eine Möglichkeit hat zu reagieren. Er packt den Mann an den Haaren, zerrt seinen Kopf kräftig nach unten auf die schmale Fensterbank. In der anderen Hand hat er den Friedhofsschlüssel. Er drückt dem Mann die Spitze gegen den Hals, gegen eine weiche Stelle direkt unter dem Kiefer.
»Für wen hältst du mich?« fragt er ruhig, fast im Gesprächston. »Für wen hältst du mich?«
Später, wenn Anlass besteht, von solchen Dingen zu sprechen, wird der Mann sagen, er habe Mordlust in diesen grauen Augen gesehen, wird darauf beharren und wird Gehör finden. Was auch immer er sieht, es bringt ihn zum Schweigen. Selbst die Frauen sind verunsichert. Das Spektakel ist vorbei. Sie machen sich davon, jede in ihre eigene kleine Sphäre. Binnen einer Minute steht der Ingenieur ganz allein da.
2
BE I SEINE R NÄCHSTE N Zusammenkunft mit Monsieur Lafosse – drei Tage nach den Ereignissen in der Rue Saint-Denis – bietet Jean-Baptiste seinen Rücktritt an. Er drückt sich ganz unmissverständlich aus. Er wolle nicht mehr Leiter der Arbeiten auf dem Friedhof der Unschuldigen sein. Er wolle nichts mehr mit Les Innocents zu tun haben. Er wolle woanders hingehen, etwas anderes machen. Er sei schließlich Ingenieur: soviel wisse er. Er sollte sich eine angemessenere Beschäftigung suchen.
Lafosse, der sich bei diesen Zusammenkünften im Wohnzimmer der Monnards niemals hinsetzt, lässt den jungen Mann ausreden, dann sagt er ihm, ein Rücktritt stehe nur Menschen von einiger Bedeutung in der Welt offen, und ein
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