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Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Titel: Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Miller
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Ingenieur gibt dem Fuhrunternehmer das Zeichen. Mit einem Pfiff treibt dieser die Pferde an. Man hört das Klirren von Geschirren, das malmende Geräusch, mit dem sich Eisenreifen auf Stein drehen und, von der Ladefläche der Karren, ein gedämpftes Klappern und Scharren, als die Knochen sich unter ihrer Abdeckung zurechtrütteln.
    Die Priester beginnen einen Psalm zu singen – Miserere Mei, Deus –, aber der Rhythmus ihrer Schritte, ihres Gesangs wird vom Tritt von Colberts Stiefeln gestört, die nach ihrem eigenen Rhythmus marschieren. Er führt sie in Richtung Fluss, das rote Gesicht grimmig vorgestreckt, als wäre er auf dem Weg, die Hölle heimzusuchen.

5
     
    DI E GRUB E A N der Friedhofsmauer wird geleert und wieder gefüllt. Zwei weitere werden geöffnet. Der Ingenieur verfeinert seine Methoden. Er verlangt den Männern mehr ab, verlängert den Arbeitstag, während die Nacht sich langsam vor der Jahreszeit zurückzieht. Ein zweiter Bergmann macht sich aus dem Staub, kehrt drei Tage später stumm und hungrig zurück. Was die anderen angeht, wer weiß? Wenn man sie so sieht, scheinen sie sich mit der Arbeit, mit dieser Art von Arbeit abgefunden zu haben, dagegen abgehärtet zu sein. Er wüsste sehr gern, worüber sie reden, wenn sie allein sind. Er bewundert sie, ihren Mut, ihr unabhängiges Auftreten. Scheinen sie nicht ungebundener zu sein als er? Freier? Besonders einen gibt es, der seine Aufmerksamkeit, seine Phantasie erregt. Der Bergmann mit dem gekappten Finger, den violetten Augen, der kommt und geht wie eine Erscheinung. Die anderen, scheint es, ordnen sich ihm unauffällig unter, bewegen sich in wechselnden Konstellationen von Respekt um ihn herum. Lecoeur – eine sichere Informationsquelle, was die anderen betrifft – hat wenig über ihn zu sagen, nur dass er sich kurz vor dem Aufbruch aus Valenciennes dem Trupp angeschlossen hat, Ersatzmann für einen, der sich für reiseunfähig erklärte. Er heiße Hoornweder. Vielleicht Hoornweder. Hoornweder oder Tant, vielleicht aber auch Moemus. Oft erfänden sie einfach einen Namen für sich. Ob der Ingenieur Grund habe, unzufrieden mit ihm zu sein? Nein, nein, sagt Jean-Baptiste. Es gebe keinen Grund. Er sei einfach nur neugierig.
    Bis zur Monatsmitte schicken sie fünf Prozessionen pro Woche zur Porte d’Enfer, und eine Zeitlang gehören diese Prozessionen – die leiernden Priester, die Kerzen, die Karren mit ihrer traurigen Last – zur Liste der Unterhaltungsmöglichkeiten in der Stadt. Der Mercure de France druckt einen kleinen Führer, der die Zeiten der Prozessionen und die vorteilhaftesten Beobachtungsplätze nennt (die Überquerung des Flusses wird stark empfohlen). Jungen Paaren, besonders solchen aus den wohlhabenden Schichten, verschafft der Anblick einen wohligen Schauer. Grimmig belustigte Moralisten sehen mit verschränkten Armen zu. Ausländische Besucher schreiben Briefe nach Hause, wollen eine Metapher, wollen ganz Frankreich in dieser gewundenen Karawane von Gebeinen sehen. Dann zeigt die Stadt ein allgemeines Achselzucken. Sie sieht sich nach anderen Möglichkeiten um, sich zu amüsieren. Die Cafés. Politik. Ein weiterer Aufstand, vielleicht.

6
     
    ARMAN D LÄD T SIC H SELBST bei den Monnards ein, um auf Ziguettes Pianoforte zu spielen. Er nimmt auf Kosten der Monnards die Dienste eines vollständig Blinden mit Werkzeugen wie ein Zahnzieher in Anspruch, der missbilligende Laute von sich gibt, Grimassen schneidet, halb in das Instrument hineinkriecht und es schließlich in die richtige Stimmung bringt.
    Als Armand sich zum Spielen niedersetzt, scheint er mit den Fingerspitzen Klänge in die Tasten zu schleudern. Beim ersten großen Aufeinanderprall von Akkorden verkriecht sich Ragoût unter dem Sessel, dann kommt er hervor und bohrt wie rasend die Krallen in das Gewebe des Teppichs.
    »Sie bringen meine Orgel um«, ruft Armand über die von ihm selbst erzeugten Klänge hinweg, »aber Sie haben mir das hier geschenkt, und deshalb verzeihe ich Ihnen.«
    »Ich habe Ihnen das nicht geschenkt«, sagt Jean-Baptiste.
    »Eigentum«, sagt Armand, »wird bald ein sehr viel dehnbarerer Begriff sein.«
     
    Jean-Baptiste leidet unter Kopfschmerzen. Er wird für den Rest seines Lebens darunter leiden. Wenn sie am schlimmsten sind, legt sich eine dunkelviolette Membran über die Welt, als blickte er aus dem Riss in seinem eigenen Kopf hinaus. Er muss dann vollkommen stillsitzen. Der Schmerz steigert sich, bis er durch ausgiebiges Erbrechen

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