Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
nicht sicher. Was er allerdings genau weiß und nicht in Frage stellen muss, ist, dass sie da war, als er es zum erstenmal gesehen hat, fast genau da gestanden hat, wo er jetzt steht, mit ihrem Laib Brot, von dem sie ihm ein Stück anbot, das er sich geschnappt hat wie ein großer, ungelenker Vogel, eine große, gelbäugige Möwe. Und dann hinterher, im Beinhaus mit Armand, den er eigentlich tadeln, dem er Leichtfertigkeit und die Untergrabung seiner Autorität vorwerfen wollte, wurde er selbst beschuldigt, bekam zu hören, dass es ihm einzig und allein um sein berufliches Ansehen gehe und seine Politik die Politik der »nicht gezogenen Schlussfolgerungen« sei.
Hatte er verstanden, was Armand mit diesem Ausdruck meinte? Viel Gelegenheit, darüber nachzudenken, hat er nicht gehabt. Zuerst die Geschichte mit den Pfeifen der Männer, dann Lecoeurs und Armands Rückkehr in betrunkenem Zustand. Das und hundert andere Sorgen. Aber doch, er hatte es durchaus verstanden. Hatte gespürt, dass es berechtigt war. Hatte sich darüber geärgert …
Die Friedhofspforte geht auf. Ein Mann – ein drahtiger Mann mit wallendem blondem Bart, der jugendlicher, kraftvoller wirkt als das Gesicht, von dem er herabhängt – tritt auf die Straße. Als er den Ingenieur sieht, bleibt er stehen, spannt sich an, starrt.
»Block?« sagt Jean-Baptiste im Nähertreten. »Block?«
Block nickt. Unter dem Arm hat er zwei aufgerollte Säcke, Brotsäcke, nach dem daran haftenden Mehlstaub zu urteilen.
»Man schickt Sie etwas holen?«
Block nickt erneut.
»Hat Jeanne Sie geschickt?«
»Ja.«
»Sie sind also wieder bei Kräften.«
»Ja.«
Einen Moment lang sehen sie einander an, in den Gesichtern den flüchtigen Widerschein einer gemeinsamen Erfahrung, einer Auflösung und ungewissen Wiederherstellung. Dann streifen sich ihre Schultern, als sie aneinander vorbeigehen.
Auf dem Friedhof sind die Männer um eine Grube versammelt, die dicht an der Nordmauer liegt. Grube acht? Neun? Ein Mann, der eine mit Erde verklumpte, pilzbraune Beckenschaufel auf die Knochenmauer hebt, sieht ihn als erster. Er hält inne, richtet sich auf (soweit ein Bergmann das kann). Lecoeur folgt dem Blick des Mannes, stößt einen Freudenschrei aus, eilt herbei und spricht so rasch, so wirr, dass seine Worte einander zu überlagern scheinen. Sind das Tränen in seinen Augen? Vielleicht vom Rauch. Bloß vom Rauch.
Die Männer, die an der Oberfläche arbeiten, machen große Augen. Einer spricht ein Wort, lässt es wie einen Kieselstein zu seinen Kameraden hinunterfallen. Der Ingenieur begrüßt sie. Er hat keine Schwierigkeiten, sich an ihre Namen zu erinnern. Agast, Everbout, Cloët, Pondt, Jan Biloo, Jacques Hooft, Louis Cent, Elay Wyntère … Er freut sich, sie wiederzusehen, und es überrascht ihn, wie ungekünstelt seine Freude ist. Er fordert sie auf, wieder an die Arbeit zu gehen. Sie tun wie geheißen.
»Wir haben«, sagt Lecoeur in vertraulichem Ton, »nicht so große Fortschritte gemacht, wie ich mir das gewünscht hätte. Letzte Woche sind wir mit zweien fertig geworden« – er deutet auf die Stelle, wo sie gegraben haben –, »und wir wären auch mit dieser schon fertig, wenn die Wände nicht eingestürzt wären. Zum Glück haben die Männer gerade Pause gemacht. Ich habe sogar gefürchtet, die Friedhofsmauer bricht zusammen.«
»Hast du die … die hölzernen … die Formen … die Formen verwendet, die die Wände abstützen?«
»Die Verschalung? Ich hatte gehofft, das wäre nicht nötig. Es war eine Zeitlang ziemlich trocken. Das war natürlich ein Irrtum. Es tut mir leid.«
»Es ist kein großes Problem. Wir können die Mauer mit der Erde abstützen. Einer Rampe aus Erde. Dann setzen wir die Verschalung ein.
»Ja«, sagt Lecoeur. »Das wird das Beste sein.«
»Haben die Männer schon ihr Mittagessen bekommen?«
»Vor einigen Stunden. Ich glaube, es ist schon nach drei.«
»Das war mir gar nicht klar.«
» Tempus fugit «,sagt Lecoeur fröhlich. An seinen Mundwinkeln haftet ein wenig weißer Belag. Seine Lippen sind vom Wind rissig und sehen wund aus. »Bist du vollkommen wiederhergestellt?« fragt er.
»Wie ich höre, habe ich einen dicken Schädel«, sagt Jean-Baptiste. »Und du?«
»Was?«
»Bist du gesund?«
»Ach, mach dir meinetwegen keine Sorgen. Wir Lecoeurs sind eine zähe Brut.« Er lacht. »Ich wage zu behaupten, dass ich einen Bären niederringen könnte. Falls es nötig wäre.«
»Oder einen Elefanten?«
»Einen
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