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Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Titel: Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Miller
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solcher Mensch sei er, der Ingenieur, nicht. Er, der Ingenieur, sei vielmehr so etwas wie ein Diener, und dabei noch nicht einmal ein sonderlich ranghoher. Ein Diener, der eingestellt worden sei, weil es dem Minister so beliebt habe. Ein Diener, der entlassen werde, wenn der Minister keine Verwendung mehr für ihn habe. Das seien die Bedingungen. Gegen sie zu verstoßen heiße, sämtliche Hoffnungen auf künftiges Fortkommen begraben zu können. Es sei vielleicht eher mitleiderregend als amüsant, dass der Ingenieur das alles nicht verstanden habe.
    »Ich muss also hierbleiben? Mir bleibt keine andere Wahl als hierzubleiben?«
    »Bravo, Monsieur. Sie haben die wesentliche Tatsache begriffen. Wenn Sie mir jetzt erlauben würden, mit dem fortzufahren, weswegen ich mir die Mühe gemacht habe, hierherzukommen, um es mit Ihnen zu besprechen?«
    Was Lafosse besprechen möchte – obwohl zwischen ihnen niemals etwas stattfindet, was man für eine Besprechung halten könnte –, ist die Neuigkeit, dass die Grube an der Porte d’Enfer endlich soweit ist, dass sie die erste Fuhre von Gebeinen aufnehmen kann. Seine Gnaden der Bischof habe in den Gewölben und Gängen, in denen die Gebeine gelagert würden, Weihwasser versprengt. Die Karren würden nachts fahren, begleitet von Priestern aus dem Seminar von Saint-Louis. Diese würden die ganze Fahrt über laut und mit kräftiger Stimme beten. Es würden Weihrauch, Pechfackeln, schwarzer Samt verwendet. Alles solle die Anteilnahme, die entschieden katholische Gesinnung des Ministers widerspiegeln …
    »Und darf ich dem Minister berichten«, sagt Lafosse, »dass Ihre Gesundheit inzwischen völlig wiederhergestellt ist? Dass dergleichen Abenteuer sich nicht wiederholen werden?«
    Den neuen schwarzen Rock des Ingenieurs lässt er unkommentiert, einen Rock, der irgendwie ein, zwei Schattierungen schwärzer ist als sein eigener.

3
     
    ABENDESSE N MI T DE N MONNARDS . Ein mit Kapern gefüllter Kohlkopf. In Wein gedünstete Kalbsnieren. Kürbiskuchen.
    Monsieur und Madame essen in einem Zustand äußersten Unbehagens. Der Ingenieur, für den mittlerweile jedes Essen schlicht zu einer Sache von Menge, Masse, Elastizität, Oberflächenbeschaffenheit, Grad von Trockenheit geworden ist, isst einfach. Marie sieht aus wie das blühende Leben.

4
     
    I N DE R NACH T des neunten März, nach der Uhr des Ingenieurs um kurz nach elf, steht ein Konvoi von Karren – soliden, geräumigen, für den Transport von Steinen gebauten Fahrzeugen – bereit, zum Pont Neuf und zu der Grube zu fahren. Sie zu beladen hat mehr als drei Stunden gedauert, dabei sehen die Knochenmauern auf dem Friedhof kaum anders als vorher aus. Und was die Krypten und Dachkammern voller Gebeine über den Galerien angeht, so sind sie nicht einmal angerührt worden.
    Die Pferde warten geduldig im Geschirr. Ab und zu scharrt eines mit dem Huf über die Pflastersteine. Die Priester sind blass, geübt, jung, wetteifern miteinander in Frömmigkeit. Sie umklammern ihre Fackeln, ihr Blick geht von ihren Nebenleuten zu den Karren mit ihrer in Samt gehüllten Last.
    »Wollen wir hoffen, dass die Burschen gute Stiefel haben«, sagt Armand. »Bis das hier vorbei ist, werden sie einmal bis zum Mond und zurück gegangen sein.«
    Auf der anderen Seite der Rue de la Ferronnerie haben sich zwanzig, dreißig Zuschauer versammelt. Bis jetzt hat es für die Leute nicht viel zu sehen gegeben. Den Rauch der Feuer, das wöchentliche Erscheinen der Bergleute, die Seeleuten auf Landurlaub in einem fremden Hafen gleichen, mit Augen voller nicht geheurem Wissen. Doch jetzt gibt es das da, einen Wagenzug mit Fackeln und Priester in ihren langen Mänteln mit Messingknöpfen. Den ersten unleugbaren Beweis für das Ende des Friedhofs! Den ersten Abtransport. Es gibt keinen Protest, keine Klage – so wie es auch vorher keine gegeben hat. Welche Loyalität auch immer die Leute gegenüber diesem Flecken stinkenden Bodens noch empfinden, niemand, mit Ausnahme von Ziguette Monnard, hat eine Hand gehoben, um ihn zu retten.
    Im letzten Augenblick, als alles bereit ist und der Beginn der Darbietung unmittelbar bevorsteht, erscheint Père Colbert. Er stolpert durch die Friedhofspforte, schiebt seinen massigen Körper zwischen Armand und Jean-Baptiste, funkelt sie durch seine getönte Brille hindurch an, funkelt die jungen Priester an. Er reißt einem von ihnen die Fackel aus den Händen, stampft dann an die Spitze der Prozession und pflanzt sich dort auf.
    Der

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