Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
Jean-Baptiste leise und hastig und blickt dabei über Armands Schulter auf die Bögen des südlichen Beinhauses, »als sie mir den Schlag versetzt hat … hinterher, meine ich, verstrichen einige Augenblicke, bevor ich die Besinnung verlor. Sehr wenige, glaube ich, aber genug. Ich wollte … etwas festhalten. Einen Gedanken. Ich habe geglaubt, ich sterbe, verstehen Sie. Ich habe mir etwas gewünscht, was dem Augenblick einen Sinn verleiht.«
»Und was haben Sie gefunden?«
»Nichts. Absolut nichts.«
In der Rue aux Fers graues Licht, grauer Stein; auf den steilen Dächern die schwarzen Formen von Vögeln. Links von ihm die Ecke der Rue de la Lingerie, rechts von ihm die Rue Saint-Denis. Am Brunnen leckt ein magerer, abgezehrter Hund an einer Pfütze. Er spürt, dass er beobachtet wird, blickt mit triefender Schnauze auf, dreht sich dann um, hinkt in die Rue Saint-Denis, hält einen Moment inne, wie um festzustellen, welche Hälfte der Welt ihn herbeigewunken hat, und geht dann nach Norden in Richtung Faubourg.
Der Ingenieur folgt ihm, tritt in den Strom der Straße ein, bleibt unbeholfen darin stehen, und ist sofort jedermann im Weg. Er kann das Tier nicht mehr sehen, muss das aber auch nicht. Er weiß, was er jetzt tun wird, wenngleich es einem Mann, der sich bislang gerühmt hat, einen ausgebildeten, schattenlosen Verstand zu besitzen, auf beunruhigende Weise wie ein Abstieg in rituelle Magie vorkommt. Er wird die Rue Saint-Denis hinaufgehen. Er wird einen Bogen zur Kirche Saint-Eustache schlagen. Er wird, so gut es geht, der Route folgen, die er in der Nacht genommen hat, in der er mit Armand und dessen Mitwaisen malen ging, der Nacht, in der er sich allein mit Héloïse im Nebel wiederfand. Er wird der Route folgen, Héloïse dadurch wiederfinden und ihr seine Botschaft übermitteln – worin auch immer diese besteht. Er hat sie noch nicht in Worte gekleidet, doch sie wird sich, sobald Héloïse vor ihm steht, gewiss aus seinem Mund ergießen wie der Heilige Geist.
Er macht sich auf den Weg, durch einen Schwarm von Näherinnen hindurch, lärmenden, rotbäckigen Mädchen, die dem Fluss zustreben, nachdem sie auf ihren Bänken zwölf Stunden lang aus zusammengekniffenen Augen auf Nadeln gestarrt haben. In der Rue Saint-Denis herrscht die genussvolle Stunde, zu der die Arbeit kurz eingestellt wird und man einem Stückchen Winterabend ein wenig Vergnügen abgewinnen kann. Djecos Weinladen ist bereits voll. Draußen an der Wand lehnen zwei Träger wie spanische Kavaliere des Goldenen Zeitalters. Gießer, Blumenmädchen, Schuhputzer, Stockverkäufer, Bettler, Fiedler, Mietschreiber – wenn überhaupt einer von ihnen den Ingenieur, die Anspannung in seinem weißen, verletzten Gesicht bemerkt und ein, zwei Schritt weit belustigt oder beunruhigt ist, so wird er bald zu neuen Zerstreuungen fortgerissen. Er jedenfalls nimmt sie größtenteils nicht wahr und würde sie überhaupt nicht bemerken, wenn er nicht ab und zu einen Schulterstoß von einem Mann oder einer Frau bekäme, die im Gegenstrom dahineilen. Er blickt voraus, so weit voraus, wie er kann, schaut und versucht, sich des immer stärker werdenden Verdachts zu erwehren, dass all das – was er hier tut – nichts weiter als eine der unvorhersehbaren und lang anhaltenden Auswirkungen der Verletzung ist, vor denen Dr. Guillotin ihn gewarnt hat. Und dann, nachdem er vom Brunnen aus nicht mehr als dreihundert Meter gegangen ist, lässt eine Bewegung in Rot – bei diesem Licht fast Lila – ihn zunächst wie angewurzelt stehenbleiben, bis er sich dann, mit schnellerem Schritt, wieder in Bewegung setzt.
Beunruhigend, dass er sie so leicht gefunden hat! Keine Zeit gehabt hat, sein Schwindelgefühl endgültig loszuwerden, sich zu sammeln. Beunruhigend, sich vorzustellen, dass Magie vielleicht funktioniert …
Sie ist zu weit voraus, als dass er sie anrufen könnte, und bewegt sich wie er in nördliche Richtung. Eine ganze Minute lang verliert er sie aus den Augen, weil zwei dahintrottende Lastpferde ihm den Blick verstellen, dann erspäht er sie wieder: Sie steht am Fenster eines Ladens, das Gesicht dicht am Glas. Er kennt den Laden, ist schon viele Male daran vorbeigekommen. Man verkauft dort diese Dinger – Herr des Himmels, er hat selbst eines auf dem Kopf! –, aber die für Frauen, für Frauen und Mädchen. Bänder und so weiter, Schleier, gefärbte Federn …
»Héloïse!«
Er hat zu früh gerufen; seine Stimme trägt nicht recht, obwohl die Frau
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