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Friedhof für Verrückte

Friedhof für Verrückte

Titel: Friedhof für Verrückte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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eingestellt war, das statische Rauschen verebbte und die Stimmen deutlich aus dem großen, kreisförmigen Lautsprecher quakten. Erst dann gab man sich zufrieden; um den Klang ging es, nicht um das Gesagte. Nicht anders verhielt es sich in dieser Nacht, an diesem Ort, wo Emily Sloane mit Hilfe des Weihrauchs, der Kerzen und des Klangs der Glocke herbeigerufen und ins Licht emporgezogen wurde. Nur aus Erinnerungen bestand sie, nicht aus Fleisch und Blut, höre, höre, die Glocke, die Glocke, und die Stimme, die Stimme, und Constance stand hinter der weißen Statue, bereit, sie aufzufangen, sollte sie fallen, und die Statue sagte: »Das Studio. War nagelneu. Weihnachten, jeden Tag. Er war immer. Um sieben Uhr hier. Morgens. Eifrig. Ungeduldig. Wenn er Leute sah, mit verschlossenem Mund. Er sagte: Mund auf! Lachen. Er konnte es nicht verstehen. Alle so deprimiert, wo es doch nur ein Leben gab. Zum Leben. So viel zu unternehmen …«
    Sie trieb wieder davon, als hätte sie dieser lange Ausbruch bis zur Erschöpfung ermüdet. Sie ließ ihr Blut einige Herzschläge lang zirkulieren, füllte die Lungen und machte weiter, wie gehetzt: »Ich … im gleichen Jahr, mit ihm. Fünfundzwanzig, gerade aus Illinois angekommen. Verrückt nach Filmen. Er merkte es gleich. Behielt mich immer … in seiner Nähe.«
    Schweigen.
    »Dann; wunderbar. Die ersten Jahre … Das Studio wuchs. Er breitete sich aus. Entwarf. Er war der Entdecker und Kartograph. Mit fünfunddreißig. Er sagte. Will die Welt hinter meinen … Mauern. Ohne Reisen. Haßte Eisenbahnen. Automobile hatten seinen Vater getötet. Große Liebe. Und so … lebte in einer kleinen Welt. Wurde immer kleiner, je mehr Städte und Landschaften er erbauen ließ … auf dem Gelände. Gallien! Gehörte ihm. Dann … Mexiko. Die Inseln vor Afrika. Dann … Afrika! Er sagte. Reisen nicht nötig. Schloß sich einfach ein. Leute einladen. Nairobi? Dort ist es! London? Paris? Da drüben! In jeder Dekoration übernachten. Übernachten in New York. Wochenenden: am linken Seineufer … in den Ruinen Roms erwachen. Blumen pflanzen. Kleopatras Grabmal. Hinter die Fassaden jeder Stadt: Teppiche, Betten, fließend Wasser. Die Studioleute lachten ihn aus. War ihm egal. Jung, närrisch. Er baute immer weiter. 1929,1930!’31,’32!«
    Crumley schaute mich an und zog die Augenbrauen hoch. Mein Gott, und ich hatte gedacht, ich hätte mir etwas völlig Neues ausgedacht, als ich im Haus meiner Großeltern in Green Town leben und arbeiten wollte!!
    »Sogar an Orten«, murmelte Emily Sloane, »wie Notre Dame. Im Schlafsack. Über den Dächern von Paris. In der Morgensonne aufwachen. Verrückt? Nein. Er lachte. Ließ die anderen lachen. Nicht verrückt … das kam erst später …«
    Sie versank wieder in Schweigen.
    Eine ganze Weile dachten wir, sie wäre endgültig ertrunken.
    Doch dann klingelte ich wieder mit dem Glöckchen, und sie nahm ihre unsichtbare Handarbeit wieder auf, wobei sie auf ihre Finger und das Muster, das sie vor ihrer Brust wob, herabstarrte.
    »Später dann … es wurde … wirklich … verrückt. Ich heiratete Sloane. War nicht mehr Sekretärin. Hat er nie verziehen. Er spielte mit großen Spielsachen … er sagte, er liebe mich immer noch. Und dann diese Nacht … Unfall. Es. Es. Es ist passiert. Also bin ich … gestorben.«
    Crumley und ich warteten einen endlosen Moment. Eine Kerze erlosch.
    »Er kommt mich besuchen, wissen Sie«, sagte sie dann in das verblassende Geräusch der verlöschenden Kerzen.
    »Er?« wagte ich zu flüstern.
    »Ja. Oh, ein … zwei … drei … mal … im Jahr.«
    Weißt du überhaupt, wie viele Jahre schon vergangen sind? fragte ich mich.
    »Er führt mich aus, führt mich aus«, seufzte sie.
    »Sprechen Sie mit ihm?« flüsterte ich.
    »Er redet. Ich lache nur. Er sagt … Er sagt.«
    »Was?«
    »Daß er mich liebt, nach all den Jahren.«
    »Was sagen Sie?«
    »Nichts. Nicht richtig. Ich habe … viel Ärger gemacht.«
    »Sehen Sie ihn deutlich?«
    »O nein. Er sitzt im Schatten. Oder steht hinter meinem Stuhl, schmeichelt mir. Schöne Stimme. Dieselbe. Obwohl er tot ist, und ich bin auch tot.«
    »Und wessen Stimme ist es, Emily?«
    »Warum …« Sie zögerte. Dann hellte sich ihr Gesicht auf. »Arbys natürlich.«
    »Arby …?«
    »Arby«, sagte sie und schwankte leicht, den Blick auf die letzte brennende Kerze gerichtet. »Arby. Er hat es geschafft. Glaube ich. So viel Dinge im Leben. Das Studio. Die Spielsachen. Macht nichts, daß ich fort bin.

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