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Friedhof für Verrückte

Friedhof für Verrückte

Titel: Friedhof für Verrückte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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Sloane in den schwachen Lichtkreis geschoben wurde, ließ sie den Hauch einer Regung merken, ein winziges Zucken der Augen unter den Lidern, als das leichte Flackern der Kerzenflammen Stille gebot und die Schatten krümmte.
    Ich fächelte Luft.
    Ich ließ das Glöckchen ertönen.
    Da ging ein leiser Hauch durch Emily Sloanes Körper. Wie ein schwereloser Drachen, der von einem unsichtbaren Wind emporgetragen wird, richtete sie sich auf, als sei sie ihres Gewichtes ledig.
    Die Glocke erklang erneut, und der Geruch des Weihrauchs ließ ihre Nasenflügel beben.
    Constance zog sich ins Dunkel zurück.
    Emily Sloanes Gesicht wandte sich dem Licht zu.
    »Ohmeingott«, flüsterte ich.
    Sie war jene blinde Frau, welche in jener Nacht, die schon tausend Nächte zurückzuliegen schien, im Brown Derby gesessen und das Lokal mit dem Monster verlassen hatte.
    Nur daß sie nicht blind war.
    Sondern geistesgestört.
    Aber keine gewöhnliche Geisteskranke.
    Auferstanden aus dem Grabe, hier in diesem Raum, im strengen Duft des Weihrauchs, angelockt vom Bimmeln einer Glocke.
    Emily Sloane.
    Emily saß zehn Minuten einfach nur dort und sagte nichts. Wir zählten unsere Herzschläge. Wir beobachteten, wie sich die Flammen in die Kerzen hineinfraßen; der Weihrauchduft verflog.
    Und dann, endlich, dieser wunderbare Moment, als ihr Kopf zur Seite fiel und ihre Pupillen plötzlich größer wurden.
    Sie muß noch einmal zehn Minuten dort gesessen und Dinge in sich aufgenommen haben, die sie aus einer Zeit lange vor dem Unfall kannte, aus jener Zeit vor dem schrecklichen Ereignis, das sie zerschellt an der kalifornischen Küste zurückgelassen hatte.
    Ich sah, wie ihr Mund zuckte, als sich die Zunge hinter den Lippen bewegte.
    Vor ihren Augen bildeten sich Wörter, die sie schließlich laut wiedergab: »Niemand …«, murmelte sie, »… versteht … das …«
    Und dann: »Niemand … hat … es … je verstanden.«
    Schweigen.
    »Er war …«, sagte sie endlich, und verstummte wieder.
    Das Räucherstäbchen qualmte. Die Glocke ertönte leise.
    »… er … liebte … das … Studio …«
    Ich biß mir vor Anspannung in den Handrücken.
    »… ein Ort … zum … Spielen. Kulissen …«
    Stille. Ihre Augen zuckten unter dem Ansturm der Erinne rung. »Kulissen … Spielzeug … elektrische … Eisenbah nen. Kleine Jungs, ja. Zehn …« Sie atmete tief durch. »Elf … Jahre … alt.«
    Die Flammen der Kerzen zuckten.
    »… er … sagte immer … Weihnachten … immer … nie vorbei. Er … würde … sterben … wenn es nicht mehr Weihnachten … wäre. Kindskopf. Aber … zwölf … er … zwang seine Eltern … Geschenke … Socken … Krawatten … Pullover … zurücknehmen. An Weihnachten. Spielsachen kaufen. Oder er würde nie mehr reden.«
    Ihre Stimme verlor sich wieder.
    Ich blickte Crumley an. Die Augen traten ihm förmlich aus dem Kopf, er wollte mehr hören, noch mehr. Die Weihrauchschwaden wehten. Ich ließ das Glöckchen klingeln.
    »Und …?« flüsterte er zum ersten Mal. »Und …?«
    »Und …«, echote sie. Sie las die Worte vor ihrem Auge ab. »So … hat er … Studio … geführt.«
    Die Knochen waren in ihren Körper zurückgekehrt. Sie nahm in ihrem Stuhl wieder Formen an, als zöge die Erinnerung an unsichtbaren Fäden und als fördere sie die alte Kraft, das dahingeschwundene Leben und ihr Selbst wieder zutage. Sogar die Knochen in ihrem Gesicht schienen die Form ihrer ursprünglichen Wange, ihres Kinns anzunehmen. Sie sprach jetzt schneller. Und schließlich ließ sie alles aus sich heraus.
    »Gespielt. Ja. Nicht gearbeitet … gespielt. Das Studio. Als sein Vater starb.«
    Je länger sie sprach, desto leichter kamen die Worte zu dreien und zu vieren und brachen endlich in Kaskaden, in Wogen und Sturzfluten aus ihr heraus. Farbe ergriff von ihren Wangen Besitz, in ihren Augen erglomm Feuer. Sie erhob sich langsam. Wie ein Fahrstuhl, der aus einem dunklen Schacht ins gleißende Licht emporfährt, so wurde ihre Seele emporgezogen und nahm den Körper mit, bis er auf den eigenen Füßen stand.
    Ich mußte an die Nächte 1925, 1926 denken, als Musik oder Stimmen aus weiter Ferne im Äther erklangen und man versuchte, sieben oder acht Knöpfe am Superheterodyne-Radio in Position zu bringen, um Stationen aus dem weitentfernten Schenectady zu empfangen, wo irgendwelche blöden Idioten Musik sendeten, die man im Grunde gar nicht hören wollte, und doch drehte man immer weiter und weiter, bis ein Knopf nach dem anderen

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