Friedhof für Verrückte
davon.
Roy drehte den Zündschlüssel und raste hinterher.
Am Hollywood Boulevard bog das Taxi nach rechts ab; wir wurden von der roten Ampel und von einigen Fußgängern aufgehalten. Roy ließ den Motor aufheulen, als wolle er sich eine Gasse bahnen, und kaum war der Überweg frei, raste er trotz Stopplicht weiter.
»Roy!«
»Hör auf, meinen Namen durch die Gegend zu schreien. Hat uns ja niemand gesehen. Wir dürfen seine Spur nicht verlieren! Ich brauche ihn! Wir müssen wissen, wo er hinfährt! Wer er ist! Da!«
Weiter vorne sahen wir, wie das Taxi nach rechts in die Gower Street einbog. Vor uns sahen wir auch Clarence unvermindert weiterrennen, doch er sah uns nicht, als wir an ihm vorbeizischten. Seine Hände waren leer. Er hatte die Mappe fallenlassen und vor dem Brown Derby liegenlassen. Wann wird er sie wohl vermissen, fragte ich mich.
»Armer Clarence.«
»Wieso ›arm‹?« fragte Roy.
»Er steckt auch mit drin. Warum hätte er sonst vor dem Brown Derby gestanden? Zufall? Garantiert nicht. Jemand hat ihn herbestellt. Herrje, jetzt hat er all seine großartigen Porträts verloren. Roy, wir müssen zurückfahren und sie in Sicherheit bringen.«
»Wir«, sagte Roy, »müssen immer weiter geradeaus.«
»Ich frage mich«, grübelte ich laut, »was für eine Nachricht Clarence bekommen hat. Was stand da wohl drin?«
»Was stand wo drin?«
Roy überfuhr am Sunset noch eine zweite rote Ampel, um das Taxi einzuholen, das schon fast am Santa Monica Boulevard angelangt war.
»Sie fahren zum Studio«, rief Roy. »Nein, doch nicht.«
Das Taxi war auf dem Santa Monica Boulevard links abgebogen, am Friedhof vorbei.
Erst als wir St. Sebastian erreicht hatten, so ziemlich die unbedeutendste katholische Kirche von ganz L.A., huschte das Taxi links eine kleine Seitenstraße direkt neben der Kirche hinunter.
Ungefähr hundert Meter weiter hielt das Taxi an. Roy bremste und parkte am Rinnstein. Wir beobachteten, wie das Monster die Frau zu einem kleinen weißen Gebäude führte, das im Schatten der Nacht verborgen lag. Er war nur einen Moment lang weg. Eine Tür wurde geöffnet und wieder geschlossen, dann kam das Monster zum Taxi zurück, das sogleich mit ihm bis zur nächsten Ecke glitt, eine elegante Kehrtwende machte und uns entgegenkam. Zum Glück waren unsere Scheinwerfer aus. Das Taxi rauschte vorbei. Roy stieß einen Fluch aus, ließ den Wagen an, schoß los und nach einer gemeingefährlichen Wende, die ich aufschreiend überlebte, waren wir wieder auf dem Santa Monica Boulevard, gerade rechtzeitig, um das Taxi vor St. Sebastian anhalten und seinen Passagier aussteigen zu sehen, der sogleich, ohne sich umzusehen, die Stiegen zum erleuchteten Eingang emporhastete. Das Taxi fuhr davon.
Roy ließ unseren Wagen mit ausgeschalteten Scheinwerfern auf einen dunklen Parkplatz unter einem Baum gleiten. »Roy, was hast du …«
»Still!« zischte Roy. »Duck dich. Ducken ist angesagt. Dieser Kerl gehört um Mitternacht so wenig in eine Kirche wie ich auf eine Varietebühne …«
Minuten verstrichen. Die Lichter in der Kirche gingen nicht aus.
»Geh mal nachsehen«, schlug Roy vor.
»Wie bitte?«
»Na schön, ich gehe selbst!«
Schon war er aus dem Wagen gehüpft und streifte sich die Schuhe von den Füßen.
»Komm zurück!« rief ich.
Doch Roy war weg, auf Socken. Ich stieg aus, zog mir die Schuhe aus und folgte ihm. Roy schaffte die Strecke bis zur Kirchentür in zehn Sekunden, ich immer dicht hinter ihm; dort angekommen, drückten wir uns eng an die Außenwand und lauschten. Wir hörten eine Stimme, anschwellend, abschwellend, lauter, dann wieder leiser.
Die Stimme des Monsters! Gehetzt ausgesprochene Monstrositäten, schreckliche Geständnisse, grauenhafte Irrtümer, Sünden, schwärzer als der marmorne Himmel über und unter uns.
Die Stimme des Priesters formulierte kurz und knapp und ebenso dringlich Worte der Vergebung, Verheißungen eines besseren Lebens, in dem das Monster, wenn schon nicht als Schönheit wiedergeboren, so doch mittels Buße einiger kleiner, süßer Freuden teilhaftig werden könne.
Geflüster, Geflüster, in der Tiefe der Nacht.
Ich schloß die Augen und strengte meine Ohren an.
Geflüster, Geflüster. Dann erstarrte ich vor Verwunderung.
Ein Schluchzen. Ein anhaltendes Heulen, das nie mehr enden zu wollen schien.
Der einsame Mensch dort in der Kirche, der Mann mit dem schrecklichen Gesicht und der verlorenen Seele dahinter, ließ seiner furchtbaren Traurigkeit freien
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