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Friedhof für Verrückte

Friedhof für Verrückte

Titel: Friedhof für Verrückte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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Lauf, damit sie den Beichtstuhl, die Kirche und auch mich erschütterte. Schluchzen, Seufzen, und wieder Schluchzen.
    Mir kamen selbst die Tränen. Dann Schweigen und – ein Geräusch. Schritte.
    Wir suchten das Weite, sprangen schnell in den Wagen.
    »Um Himmels willen!« zischte Roy.
    Er stieß meinen Kopf nach unten und kauerte sich im Sitz zusammen. Das Monster war wieder draußen; es rannte allein quer über die leere Straße.
    Vor dem Friedhofstor wandte es sich noch einmal um. Ein vorbeifahrendes Auto strahlte ihn an wie ein Theaterscheinwerfer. Es erstarrte, wartete und war dann im Friedhof verschwunden.
    In einiger Entfernung hinter uns, im Innern der Kirche, bewegte sich ein Schatten, die Kerzen erloschen, die Türen wurden geschlossen.
    Roy und ich blickten uns an.
    »Mein Gott«, sagte ich. »Welche Sünden sind wohl so groß, daß sie jemand so spät in der Nacht beichten muß? Und dieses Schluchzen! Hast du das gehört? Glaubst du – daß er herkommt, um Gott zu vergeben, weil er ihm dieses Gesicht verliehen hat?«
    »Dieses Gesicht. Ja, ja, ja. Ich muß wissen, was er vorhat, ich darf die Spur nicht verlieren!«
    Und schon war Roy wieder aus dem Wagen gesprungen.
    »Roy!«
    »Kapierst du das denn nicht, du Blödmann?« schrie Roy. »Er ist unser Film, unser Monster! Stell dir vor, er entkommt uns! Mein Gott!«
    Roy rannte über die Straße.
    So ein Narr, dachte ich. Was macht er?
    Doch ich traute mich nicht, so weit nach Mitternacht herumzuschreien. Roy setzte über das Friedhofstor und versank wie ein Ertrinkender in den Schatten. Ich schoß im Autositz so unkontrolliert hoch, daß ich mir den Kopf am Wagendach anschlug. Fluchend fiel ich in den Sitz zurück: Roy, verdammt. Verdammt, Roy.
    Was ist, wenn jetzt eine Polizeistreife kommt, dachte ich, und mir Fragen stellt? Was haben Sie hier verloren? Meine Antwort? Ich warte auf Roy. Er ist auf dem Friedhof, muß jeden Moment wieder zurück sein. Das wird er doch, oder? Klar, Sie müssen sich nur ein wenig gedulden.
    Ich wartete. Fünf Minuten. Zehn.
    Unglaublich. Roy kam tatsächlich zurück, doch er bewegte sich, als hätte man ihm Elektroschocks verpaßt.
    Langsam, wie ein Schlafwandler, überquerte er die Straße. Er sah nicht einmal, wie sich seine eigene Hand auf den Türgriff legte und die Wagentür öffnete. Er setzte sich auf den Fahrersitz und stierte hinüber zum Friedhof.
    »Roy?«
    Er hörte mich nicht.
    »Was hast du eben dort drüben gesehen?«
    Er antwortete mir nicht.
    »Kommt er, es, kommt es wieder raus?«
    Schweigen.
    »Roy!« Ich stieß ihn am Ellbogen. »Rede schon! Was ist?«
    »Er«, sagte Roy.
    »Ja?«
    »Unglaublich«, sagte Roy.
    »Ich werde dir glauben.«
    »Nein. Sei still. Jetzt gehört er mir. Meine Güte, Junior, was für ein Monster haben wir jetzt.« Endlich drehte er sich zu mir, in seinen Augen ein Feuer, seine Wangen glühten. »Das wird ein Film, Kumpel.«
    »Wirklich?«
    »Oh«, rief er mit einem Gesicht, das von einer Offenbarung erhellt war. »Absolut!«
    »Sonst hast du nichts zu sagen? Nichts davon, was im Friedhof vorgefallen ist, was du gesehen hast? Nur ›Oh, absolut‹?«
    »Oh«, sagte Roy, der den Kopf wieder Richtung Friedhof gedreht hatte. »Absolut.«
    Die Beleuchtung, die den gefliesten Lichthof der Kirche erhellt hatte, ging aus. Die Kirche lag im Dunkeln. Die Straße lag im Dunkeln. Die Lichter auf dem Gesicht meines Freundes waren verschwunden. Über dem Friedhof sah man erste Anzeichen der Morgendämmerung.
    »Oh«, flüsterte Roy.
    Dann fuhr er Richtung Heimat.
    »Ich kann es kaum erwarten, an meinen Lehm ranzukommen«, sagte er.
    »Nein!«
    Erschrocken schaute er mich an. Bäche von Straßenlicht rannen über sein Gesicht. Er sah aus wie jemand unter Wasser, unberührbar, unerreichbar, unrettbar.
    »Willst du damit sagen, ich darf dieses Gesicht für unseren Film nicht verwenden?«
    »Es geht nicht nur um das Gesicht. Ich habe so ein Gefühl … wenn du das tust, sind wir so gut wie tot. Herrgott, Roy, ich habe Angst. Jemand hat dir geschrieben, damit du ihn heute abend findest, vergiß das nicht. Jemand wollte, daß du ihn siehst. Jemand hat auch Clarence dorthin bestellt! Das geht mir alles zu schnell. Wir tun einfach so, als seien wir nie im Brown Derby gewesen.«
    »Wie stellst du dir das vor?« fragte Roy entgeistert.
    Er fuhr schneller.
    Der Wind blies zum Fenster herein, zerrte an meinen Haaren, an meinen Augenlidern und Lippen.
    Schatten liefen über Roys Stirn, seine große

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